Synopse des Buchs

 

VITTORIA COLONNA

HISTORIZITÄT

 

VIELFÄLTIG AUTHTENTISCHES

 

INDIVIDUALISIERTER PETRARKISMUS

 

NEUBELEBUNG DES PETRARCA SONETTS

Dialogisierung, Dramatisierung, Inszenierung 

 

DAS SONETT AN REGINALD POLE

als Paradigma ihrer Kunst

EPILOG

EXPERIMENTIEREN MIT DEM GÖTTLICHEN

 

HISTORIZITÄT

Kein adäquater Zugang zu Vittoria Colonna

ohne Historizität ihrer weiblichen Renaissance Persönlichkeit,

und ohne Erhellung der historischen Genese ihrer Sonette

 

RENAISSANCEMENTALITÄT 

Die Definition des Individuums der Renaissance durch Ernst Cassirer (Individuum und Kosmos derRenaissance), dem Vittoria Colonna in einer weiblichen Variante entspricht, macht deutlich, dass Vittoria Colonna gerade die Ermutigung zum Individualismus und zur Selbstreferenz in ihren Sonetten genauso ihrem Dichtervater Petrarca, „dem Genie der Individualität,“ (Cassirer) verdankt wie die mimetische Ästhetik ihrer Sonette.

Ihr Streben nach Authentizität, das sie in ihren Sonetten poetisiert, verdeutlicht die Auswirkung des gesellschaftlichen Umbruchs der Renaissance zur Moderne auf die individuelle Existenz der gebildeten Humanistin. Vittoria Colonnas radikales Streben nach Authentizität reagiert auf „die sittlich-intellektuelle Spannung“ des Menschen (Cassirer) zwischen Diesseits und Jenseits in der Renaissance.

„Was vom Willen des Menschen und von seiner Erkenntnis gefordert wird, ist die totale Hinwendung zur Welt und die totale Unterscheidung von ihr. Der Kraft der totalen Hinwendung entspricht die der totalen Rückwendung. Denn der menschliche Wille besitzt sich nur, indem er sich bewusst wird, dass ihn kein einzelnes Ziel, das menschliche Wissen besitzt sich nur, indem es weiß, dass kein einzelner Inhalt es jemals erfüllen kann.“ (Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos der Renaissance)

Wolfgang Clemen über Shakespeare: „Die gültigen Werte werden von Shakespeare bewusst in Frage gestellt, damit die Menschen sich auf ihren eigenen Weg begeben, der oft ein Leidensweg ist. Aus dem Moment geborene plötzliche Erkenntnisse, Glaube und Skepsis, halten sich die Waage und neben einem Ordnungsbegriff stehen nicht minder wichtig Zweifel, Desillusionierung, Pessimismus.“

Als neue Kriegsgefahr droht, transferiert Vittoria Colonna in einem Sonett ihren ganz persönlichen Jesus, nicht den Gekreuzigten, sondern den Menschensohn in ihre heimatlichen Gefilde nach Ischia und gemäß der Urbedeutung von Religio (Rückbindung an Gott) macht sie ihren Kahn an ihrem „lebendigen Felsen Jesu“ fest „ mit einer Schlaufe der Liebe, die der Glaube schlang“. Doch auch Jesu gegenüber wahrt sie ihre Souveränität. Sie bindet ihren Kahn zwar an ihm fest. Aber sie zerstört ihr Schifflein nicht, was einem absoluten Vertrauen gleichgekommen wäre, um sich, falls alle Stricke reißen sollten, zu neuer Gottsuche aufs Meer hinaus zu wagen. (Bullock. S1:82)

Vittoria Colonna 

AUTHENTISCHE ABWANDLUNG

VON LITERARISCHEN UND THEOLOGISCHEN VORLAGEN

Bereits als junge Dichterin nimmt sie Ovid die Feder aus der Hand und ersetzt seine männlich imaginierte Weiblichkeit in den von ihm ersonnenen Briefen seiner Heroinnen durch ein weiblich-authentisches Briefgedicht an ihren kriegsfernen Gemahl in einer Epistola, in der sie auch die bukolische Idylle, in die Sannazaro die Insel Ischia in seinem Schäferroman Arcadia verwandelt, in eine bedrohliche Naturkulisse pervertiert und mittels eines Botenberichts simultan schaltet zu der Schlacht von Ravello, in der ihr Gatte eine schwere Niederlage erleidet. (Bullock. A2:1)

Nach dem Tod ihres Gemahls lässt. sie in allen platonisch inspirierten Sonetten die platonischen Aufschwünge zu seiner Lichtgestalt in der stärkeren Realität des Todes enden. In ihren theologischen Sonetten thematisiert sie das schmerzliche Dilemma, das die Kreuzestheologie, die ihr von dem Starprediger Bernardino Ochino vermittelt wurde, in der stolzen Renaissancefürstin auslöste. Einerseits versuchte sie den Sühne Tod Jesu am Kreuz für die Sünden der Menschen zu verinnerlichen. Doch sie konnte den schmählichen Tod des Gottessohnes am Kreuz, der seine göttliche Allmacht in ihren Augen gefährdete, und im eklatanten Gegensatz stand zu der Herrlichkeit des leidlosen griechischen Gottes Apollo, die der Humanistin ein gegensätzliches Gottesbild vermittelte, nur mühsam verinnerlichen. Gerade ihre gefühlsmäßige Aversion gegen die Kreuzestheologie, die sie im Diskurs mit den befreundeten Reformtheologen nur bedingt äußern durfte, münzte sie in Dichtung um: „Sei mein Apoll“, spricht sie in einem Sonett Christus an, „und bade mir die Augen in deiner ewigen Quelle.“ 

Unter ihren enthusiasmierten Sonetten über SOLA FIDE (Rechtfertigung des Menschen durch gläubiges Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit) findet sich ein Sonett, in dem sie ihre Gläubigkeit durch Skepsis relativiert: Mit Riesenschritten hätte sie dem Herrn auf seinem Leidensweg die enge, steile Via Dolorosa hinauf folgen mögen, damit auch sie und nicht nur der Augenzeuge Petrus das wahre Licht wahrgenommen hätte! „Ach ich Elende!“, ruft sie im zweiten Quartett aus. „Aber mit meinem inneren Auge nehme ich nicht wahr, ob diese menschliche Hoffnung nicht doch aus (zerbrechlichem) Glas ist.“

 

VITTORIA COLONNA

SEHNSUCHT NACH GOTTESERKENNTNIS IM DIESSEITS

Nichts ersehnt sie mehr als einen Gott, der sich in seiner Göttlichkeit bereits im Diesseits; HIER UND JETZT; zu erkennen gibt. In ihr Sonett Quando mercé il ciel(Bullock S1:50) fügt sie als Anagramm die sehnsüchtige Frage in das Druckbild: QUANDO, QUANDO, DIO IL VERO? 

In ihrem Sonett Tempo è pur ch‘io(Bullock S1:8) inszeniert sich die Dichterin als Sibylle, die in Erwartung einer göttlichen Botschaft, mit lodernden Fackeln in beiden Händen die Nacht vergeblich nach Gott ausleuchtet, um dann in einer plötzlichen Kehrtwende ins Diesseits zurückzukehren, weil ihr der Gedanke kam, Christus könnte ihr im diesseitigen Leben begegnet sein, ohne dass sie ihn erkannte. „Da ist sie ja die Blinde“, würde er sie dann begrüßen, die unter so klaren Strahlen ihre schöne Sonne nicht erkannte.

VITTORIA COLONNA

VIELFÄLTIG AUTHENTISCHES IN IHRER DICHTUNG

 

VERWEIGERUNG DES PANEGYRIKOS

Da die Humanistin Authentizität als menschliche Echtheit und Ursprünglichkeit verinnerlichte, spiegeln ihre Familiensonette ein geschärftes Empfinden für den Narzissmus der panegyrischen Gelegenheitsdichtung wider, die sie ironisierend in ihrer Eitelkeit entlarvte, aber auch an sich selbst beobachtete. Ihren Gatten ehrt sie mit einem PORTRÄT und nicht mit einem Panegyrikos.      

In ihrem Glückwunsch Sonett an ihren Bruder Ascanio zur Geburt seines Sohnes Fabrizio, suggeriert die Dichterin auf der Metaebene ihre Aversion gegen den Narzissmus ihrer stolzen Familie. In einem Concetto vergleicht sie das Baby mit einem edlen Pflänzchen, das „verschlossen in winziger Hülle tausend Blüten“ enthält und in den Seelen der Familie glühende Hoffnungen erweckt. (Bullock E 7).

Während der panegyrische Poet den Helden auf den Sockel stellt und in seiner Darstellung der Konventionalität unterwirftporträtiert Vittoria Colonna ihren Gatten realistisch inmitten seines rastlosen Kriegerdaseins als unermüdlich Handelnden, dem nur eine kurze Lebenszeit beschieden war. Wie sehr ihr an einer authentischen Darstellung lag, wird vor allem im zweiten Quartett deutlich, das wie eine Quintessenz der großen Biographie Pescaras aus der Feder Paolo Giovios anmutet, die Vittoria Colonna in Auftrag gab (Bullock A1:6 Alle Vittoria Tue)

 

 

VITTORIA COLONNA

GYNOZENTRISCHE AUTHENTIZITÄT

IN PROTOTYPISCHER FEMINISTISCHER VORBILDLICHKEIT

 

RADIKAL AUTHENTISCHE WITWENDICHTUNG

in einer kulturkritisch–feministischen Besetzung des Begriffs Authentizität, die besonders Anstoß an der männlich objektivierenden Zurichtung der Witwe nimmt.

Vittoria Colonna bricht als junge Witwe das Tabu der stillen Trauer, das Witwen von der patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird. Auf unerhörte Weise begehrt sie auf gegen ihr Geschick. Sie widersteht dem männlichen Totschweigen des weiblichen Schmerzes und sie widersteht den Vertröstungen der Witwe auf den Himmel. Dichtend schafft sie mittels prototypischer Ichsprecherinnen in ihren Sonetten dem Leidensdruck der Witwe ein Ventil.

Ihre Verzweiflung, ihre suizidalen Anwandlungen, ihre ohnmächtigen Ausbrüche der Wut auf den Tod, ihre vereitelte Lebensfreude, ihre Depressionen ihre gesellschaftliche Marginalisierung, Isolation, Einsamkeit artikuliert sie in ihrer Dichtung radikal als Betroffene, ohne einen Schimmer Hoffnung, ohne ein Gebet, ohne Vertrauen, ohne Hinwendung zu Gott; ohne billigen Trost. 

Wie Shakespeare in seinen Tragödien, dringt Vittoria Colonna als Lyrikerin der Renaissance in ihren Witwensonetten in die Abgründe der weiblichen Seele vor, im unwiderstehlichen Drang, die Frau in extremis, in herausfordernden Grenzsituationen, zu poetisieren. 

 

 

VITTORIA COLONNA

INITIATORIN WEIBLICHER LIEBESDICHTUNG

in literarisch-feministischem Gender-Crossing

(männliches Subjekt wird weibliches Objekt)

mit einer Vielzahl von Nachahmerinnen

 

Dass eine Frau sich in einem herausfordernden Gender-Crossing zum dichtenden Subjekt aufschwingt und einen Mann, wenn auch ihren toten Gatten, nun Wachs in ihren Händen, zum Gegenstand weiblicher Liebesdichtung macht, ja es wagt, sich das InnamoramentoDantesanzueignen; war kühn. Die Poetisierung ihrer Liebe auf den ersten Blick – die Sehnsucht des ersten Blicks bleibt mir bis zu meinerletzten Stunde– provozierte die Patriarchen der Renaissancegesellschaft, die Frauen ihrem männlich imaginierten Frauenbild unterwarfen und ihr Wohlverhalten einem strengen Verhaltenskodex unterzogen. Kirche und Patriarchen erlegten Frauen in Gesellschaft von Männern Schweigen auf.

Vittorias Liebesdichtung war ein Akt der Selbstermächtigung ohne männliches Placet, ohne männliche Autorisierung. Sie verletzte die Frauen aufgenötigten Tugenden der Schamhaftigkeit, Bescheidenheit und Schweigsamkeit. 

Im Gegensatz zu dem radikal authentischen Verhalten in ihrer Witwendichtung versucht die formvollendete Renaissancefürstin und Gesellschaftslöwin, der, so Giovio, die seltene Gabe zuteil geworden sei, dass sie niemals Langeweile oder Gleichgültigkeit erzeuge, dem männlichen Publikum ihre selbst-autorisierte Liebesdichtung spielerisch humorvoll aus der Perspektive der Femina Ludenszu offerieren: Sie inszeniert sich als junge ambitionierte Poetin, die einsam am Fuße des Helikon herumirrt und vergeblich den Pfad hinauf zu der auf dem Gipfel etablierten männlichen Literatenclique sucht, ohne dass ihren flehenden Rufen, man möge ihr doch bitte die Hand nach oben reichen, Gehör geschenkt wird.

Weil sie den männlichen Erwartungshorizont genau kalkulierte, begeisterten jene Sonette, vor allem Ariost, in denen sie ihrem Gemahl als Kriegshelden aus der Perspektive der liebenden Gattin huldigt. Das tat sie nicht stereotyp, sondern wiederum inszeniert sie die Heimkehr des Gatten als Sieger in einer Aufeinanderfolge von Szenen in den vierzehn Zeilen des Sonetts (!), unter anderem in einer intimen, erotisch aufgeladenen, Begrüßungsszene der Gatten, in der sie nicht ruht, bis ER „von meinen Bitten besiegt, mir seine schönen Narben zeigte.“ Ariost war begeistert: “Sie kann einen, über den sie schreibt oder spricht, aus dem Grabe reißen.“ (Bullock.A1:61)

 

 

VITTORIA COLONNA

BESCHWÖRUNG WEIBLICHER SOUVERÄNITÄT

Vittoria Colonnatat es bereits modernen SHE-MALESmit Überbietungsanspruch in männlichen Bereichen gleich. Ihren kriegsfernen Gatten vertrat sie im Auftrag von Papst Clemens VII als Gouverneurin von Benevent und sie brachte die rebellische Stadt zur Räson. 

Eigenmächtig brach die Protofeministin auf zu einer geistig-seelischen Erneuerung der Frau in einer neuartigen weiblichen Subjekt Konstituierung auf der Grundlage des Renaissance-Humanismus. Da sie Konventionen überwand, Tabus brach, ihr männliche Autorisierung fehlte, suchte die Humanistin verzweifelt nach weiblichen Vorbildern, um ihre kühnen Initiativen zu legitimieren und fand nur Katharina von Alexandrien. 

Gasparo Contarini, der zweite Mann der Kirche, verfasste auf ihr Drängen hin eigens für sie in Briefform einen philosophischen Traktat über die Freiheit des Willens, die er aber nur dann gewährleistet sah, wenn sie sich dem Willen Gottes unterwarf, was ihr schwerfiel. 

Überlegenen Mächten, nämlich männlichem Dominanzstreben und der Macht des Schicksals gegenüber, beschwört sie weibliche virtù, die sich nicht; wie die männliche virtù;im Daseinskampf verwirklicht, sondern in innerer Resistance.„Eine Frau stärker als das Schicksal“ betitelt sie ihr Sonett an ihre Schwägerin Giovanna d’Aragona. Vorbilder findet sie in der Natur, in ihrem geliebten Felsen von Ischia, von dem sie sich Standfestigkeit gegen das anbrausende Meer in einem magischen Transfer übertragen lässt, auch im genau beobachteten Wacholderbaum, der „vom wilden Sturm umtost, seine Krone sammelt und sich fest zusammenpresst.

 “Hohe Colonna, gefestigt gegen die Stürme des umwölkten Himmels“, beginnt Bembo seinen Panegyrikos auf sie und Giovio wählt als persönliches Symbol (Impresa) für sie den Felsen von Ischia.

Mit Innerer Emigration statt Bekehrung wahrt sie ihre persönliche Souveränität gegen die infamen Verfolgungen durch die Inquisition. Psychologisch versiert, ist sie sich der Gefahr der Erstarrung in innerer Emigration voll bewusst: “Spitzfindig und sorgfältig gilt es, den Geist auszurichten, damit nicht wegen der Nachstellungen das innere Feuer der Seele erlischt.“ 

Michelangelo porträtiert Vittoria Colonna in der Zeit ihrer Verfolgung durch die Inquisition mit dem Zeichenstift. Er richtet ihre spähenden Augen am Betrachter vorbei in die Ferne, während ihr ausdrucksvoller Mund trotzigen Widerstand zu erkennen gibt.

files/sonette/3.jpg

©TRUSTEE: Collezione Grafica dell’Accademia di Venezia - Mit schriftlicher Genehmigung des Museums

 

 

 

 

VITTORIA COLONNA

REMAKEDES MARIENMYTHOS

DIE SOUVERÄNITÄT DER GOTTESGEBÄRERIN 

EIGENSCHÖPFERISCH-LITERARISCH-AUTHENTISCH PROTOFEMINISTISCH HÄRETISCH

 

Nur wenig geringer als der göttliche Sohn ist die ewige Mutter.“

Die Erhöhung Mariens durch Gott, der diese menschliche Frau als Mutter seines göttlichen Sohnes erwählte, erfüllte Vitoria mit größter Genugtuung: „Und weil er ihr die Macht der Mutter, die Liebe der Braut, die Sicherheit der Tochter verlieh, befähigte er sie , sich mit den Flügeln ihrer großen Vorzüge über alle (männlichen) himmlischen Chöre zu erheben,“ schreibt sie an Costanza Piccolomini, die Herzogin von Amalfi, die sie „als ihren erhabenen Geist“ apostrophiert. 

Die von Vittoria Colonna imaginierte Gottesgebärerin überragt die Seraphim. Ihr Platz ist neben ihrem göttlichen Sohn. Sie ist die vollkommenste Frau, von glühender Liebe entflammt, in ihrer körperlichen Schönheit verewigt, im Reichtum ihrer Gefühle vollendet. Mit beispielloser imaginativer Kraft entfaltet Vittoria Colonna die menschlich-göttliche Seins Fülle dieser Frau, die sie ontologisch als Philosophin zu ergründen suchte.

Sie inspirierte Michelangelos neuartige Ikonographie der Gottesmutter im Jüngsten Gericht, der er mit innerer Stimmigkeit die Gesichtszüge seiner geliebten Marchesa verlieh. Als Humanistin wendet sie der Künstler von dem göttlichen Zorn des Weltenrichters ab, der ihr Sohn ist, und neigt sie der leidenden Menschheit zu, der sie nähersteht als Jesu.

Die weiblich anmaßende Art, in der Vittoria die Überlegenheit der Gottesmutter über männliche Himmelsmächte propagiert, dürfte die Inquisition auf den Plan gerufen haben. Darum wohl verbreitete sie ihr revolutionierendes Marienbild nur unter Freundinnen, auf deren Loyalität sie sich verlassen konnte. Zwar beruhigt sie sich und Costanza: ihre Meditation der Mutter Gottes bewege sich im Rahmen der Kirche: Soavemente nel’usata chiesa mi rappresenti:Aber im gleichen Atemzug versichert sie sich der Loyalität der Herzogin von Amalfi: Sie schreibe ihre Meditation der Mutter Gottes nur für sie, weil sie sich bei ihr vor jeder Schmähung und bösen Absicht sicher sein könne:“essendo con voi sicura di calonnia e d’ogni iniquo morso di maligna intenzione.“

Die Idee Gottes, eine menschliche Frau zur Mutter seines göttlichen Sohnes zu erwählen, ist Vittoria berechtigter Grund, die Mutter Gottes nach seinem Tod zur Sachwalterin seines Erbes an die Menschheit zu machen und ihre intellektuelle Überlegenheit über die Apostel zu postulieren: 

Vittorias Gottesgebärerin ist die begabteste Frau, deren Intelligenz ihrem göttlichen Sohn nur geringfügig nachsteht, die an Urteilsvermögen die Cherubim übertrifft. Die Kirche hingegen propagiert Maria als Magd des Herrn. Eine Magd dient. Sie erfüllt ihre Pflicht auch ohne Einsicht in den Willen ihres Herrn. Sie muss ihre Intelligenz und ihre Emotionalität zurückdrängen. Sie ist vor allem gläubig.

„ Stell Dir vor“, schreibt sie an Costanza, „ welche erleuchteten Zeichen sie setzte, welche feurigen Worte aus ihrem Mund kamen, wie göttliche Erleuchtung in ihr erstrahlte, wie ihre richtigen Ratschläge, die keinen Gesetzen folgten, neues Recht setzten für jene, die ihr zuhörten, der Lehrerin, die vom größten Meister eingesetzt wurde, um jene Ordnung der Welt zu erhalten, die er mit seinem Blut begründet hat.

 

Vittoria Colonna imaginiert Einflussnahme der Gottesgebärerin

auf göttliches Sein in kosmischen Bildern und hymnischen Sonetten

Vorbild sind die Anrufungen der Mutter Gottes in der Lauretanischen Litanei, in denen die Körperlichkeit Mariens ebenfalls in kosmische Bilder aufgelöst wird. Doch bleibt die Gottesgebärerin der Litanei ein passives Gefäß für das Wirken Gottes, ein Vas Spirituale.

Dagegen kreiert die Renaissancedichterin in ihren kosmischen Bildern die Mittlerrolle Mariens zwischen Gott und den Menschen als Eigeninitiative der Gottesgebärerin. Sie verwandelt die göttliche Frau in LUNA, die Mondgöttin, die zwischen die wahre Sonne (Gott) und unsere Augen ihre eigene Menschlichkeit wie einen schützenden Mantel breitet: Eterna Luna, alor che fra il Sol vero e gli occhi nostri il tuo mortal ponesti.“ (Bullock S1:110)

Stella del nostro mar

Stella del nostro mar, chiara e secura

che ‘l Sol del Paradiso in terra ornasti

del mortal manto, anzi adombrasti

col virgineo tuo Suo luce pura.

 

„Klarer, sicherer Stern unseres Meeres, der du die Sonne des Paradieses auf der Erde mit deinem heiligen, sterblichen Mantel schmücktest, sogar ihr reines Licht beschattet hast mit deinem jungfräulichen Schleier!“

Die Anrufung Mariens als Stella maris, die auf den Kirchenvater Hieronymus zurückgeht, symbolisiert in der Lauretanischen Litanei und im Stundengebet der Kirche die Erhabenheit der Mutter Gottes als Sicherer Stern, der dem Seemann auf dem Meer die Richtung weist, wie auch im übertragenen Sinn der einzelnen Seele in der stürmischen See des Lebens Orientierung verleiht.

Die Dichterin der Renaissance greift das altehrwürdige Symbol des Meersterns auf, um es kühn individuell abzuwandeln. Sie weitet das kosmische Bild zu einem komplexen Concetto aus. Maria, der Meerstern, wird in Beziehung gesetzt zu Gott, der Sonne des Paradieses. Die Mutter Gottes schmückte Gott mit ihrem „heiligen, sterblichen Mantel“, indem sie seinen Sohn gebar. Die Humanistin lässt Maria, die menschliche Frau, Einfluss gewinnen auf göttliches Sein, da Gott auf sie keinen Zwang ausübte, sondern die geplante Menschwerdung seines Sohnes von der freiwilligen Zustimmung Mariens abhängig machte, Mutter seines göttlichen Sohnes zu werden.

 

Vittoria Colonna

Entlarvung der männlich imaginierten Weiblichkeit

der süßen Madonnen der Renaissance 

am Beispiel der geschönten Marien Ikone des Heiligen Lukas

 

Silvia Bovenschen, die Erforscherin der männlich imaginierten Weiblichkeit, hatte in Vittoria Colonna eine Vorläuferin, die Authentizität und Lebensechtheit in der geschönten Ikone des Heiligen Lukas vermisste. Obwohl Lukas die Mutter Gottes persönlich kannte, habe er ihre Lebendigkeit in seinem Bild verborgen, wirft ihm Vittoria Colonna vor: Quel vivo no ´l mostro, weil er aus der Kunst den dunklen Schatten – la fiera ombra -verbannte.

Michelangelo zeichnet die Mutter Jesu als natürliche Frau und Humanistin, die von Gottvater Rechenschaft für den Kreuzestod ihres Kindes fordert.

Die Lebensechtheit, die Lukas nicht zeigte, thematisiert Michelangelo in seiner Zeichnung Madonna del Silenziogeradezu provozierend. Gar nicht madonnenhaft sind Aussehen und Körperhaltung der Mutter Jesu, einer reifen Frau, der Michelangelo die Gesichtszüge der geliebten Marchesa verlieh. Anders als die süßen Madonnen der Renaissance trägt die Mutter Jesu in der Zeichnung Michelangelos ein legeres, schlichtes Gewand und einen Turban. Die Beine hat sie übereinandergeschlagen. Auf einem Bein schläft in verkrampfter Haltung der kränklich wirkende Jesusknabe, als werfe der Kreuzestod bereits seine Schatten voraus.

Die Mutter, zudem eine Humanistin, hält mit der in Richtung Himmel ausgestreckten Hand dem unerbittlich schweigenden Gottvater ein leeres Papier entgegen, auf dem er sich für den Kreuzestod des Knaben rechtfertigen soll. Das Papier bleibt leer. Gott bleibt die Antwort schuldig. 

 

files/sonette/5.jpg

Die Zeichnung befindet sich in unbekanntem Privatbesitz in England. Fundstelle: Ausstellungskatalog. Vittoria Colonna. Dichterin und Muse Michelangelos. Kunsthistorisches Museum Wien. Wiedergabe der Abbildung mit schriftlicher Genehmigung des Museums.

 

 

VITTORIA COLONNA UND PETRARCA

 

GEISTIG SEELISCHE PRÄGUNG DER RENAISSANCEDICHTERIN

DURCH IHREN DICHTERVATER

 

VITTORIA COLONNA 

ANDERSARTIGKEIT

 

INDIVIDUALISIERUNG PETRARKISTISCHER POETOLOGIE:

 

SONETT AN REGINALD POLE

 

NEUBELEBUNG DES PETRARCA SONETTS

Dramatisierung – Dialogisierung - Inszenierung 

 

–Kommunikation - 

 

VITTORIA COLONNA

GEISTIG – SEELISCHE PRÄGUNG DURCH PETRARCA

 

GABE DER SELBSTBEOBACHTUNG

Ohne ihre tiefe Empathie für Petrarca wäre Vittoria Colonnas Dichtung nicht denkbar. Nie hätte sie ohne sein Vorbild den Mut gehabt, selbstreferentielle Sonette an die männlichen Geistesgrößen Pietro Bembo und Reginald Pole zu richten. Petrarca ermutigte sie, „der in Briefen Traktaten und seiner Dichtung jede Gelegenheit der Selbstbetrachtung wahrnahm, um seiner inneren Natur bewusst zu werden, ihre Kompliziertheiten zu durchleuchten und anderen mitzuteilen.“ (Hugo Friedrich)

Vittoria Colonnas objektive Selbstbeobachtung erstaunt, wenn sie zum Beispiel an sich selbst die Rasanz des Bewusstseinsstromes im Vergleich zur physikalischen Zeit feststellt, eine Entdeckung, die sich Virginia Woolf und James Joyce auf ihre Fahnen schrieben oder wenn sie an sich das psychisch-physiologische Phänomen des Flashbackwahrnimmt, als die Erinnerung an den Schreckensboten der Niederlage ihres Gatten in der Schlacht von Ravellogenügte, um ihr Blut wieder in Wallung zu bringen:“che la memoria il petto ognor mi coce.“

Keineswegs war ihre Selbstbezogenheit egomanisch oder exzentrisch Man vergleiche sie mit der kapriziösen Else Lasker-Schüler! Ganz im Gegenteil war die Selbstbeobachtung Vittoria Colonnas gynozentriert authentisch, objektiv, ihr einziges Instrument als Initiatorin weiblicher Liebeslyrik, um andere Poetinnen zur Nachahmung zu motivieren. Was sie ihrer Freundin Marguerite d’Angoulême schrieb, galt für sie selbst. “Nur in Ihrer Selbstvollendung sind Sie ein Beispiel für andere Frauen.“

 

LUSTVOLLES EINTAUCHEN IN DIE EIGENE ZWIESPÄLTIGE SEELE 

Ernst Cassirer schreibt über Petrarca, immer wieder vertiefe sich seine Seele in die Anschauung der inneren Bewegtheit des Ich, um sie in ihrer Mannigfaltigkeit zu bewundern und in ihrer Gegensätzlichkeit zu genießen. 

Vor allem letzteres trifft voll und ganz auf Vittoria Colonna zu, als Folge ihrer inneren Zerrissenheit zwischen Diesseits und Jenseits. Während die Dichterin in hochgemuter Stimmung für die Gottesgebärerin als Meeresstern in Stella Marisnur kosmischen Weiten als angemessen fand, betrachtet die nicht mehr euphorisch gestimmte Dichterin in einem anderen Sonett (Bullock S1:64) das oszillierende Spiel der Sonnenstrahlen, die durch die bewegten Blätter eines Baumes auf eine schattige Mauer fallen: Nun genügen der resignierenden Dichterin die miteinander kommunizierenden Lichtfunken als irdisches Abbild des himmlischen Lichtes, das die Gottesmutter als Mandorla umstrahlt, um dann in den Terzinen des Sonetts ihr Unvermögen einzugestehen, die Verklärung Mariens jemals in den Griff zu bekommen.

 

VITTORIA COLONNA

ANDERSARTIGKEIT

Zweifellos ist Vittoria Colonna nicht nur in poetologischer Hinsicht, sondern auch in ihrer geistig-seelischer Prägung klassische Petrarkistin. Zudem ist ihre bevorzugte Dichtungsform das Petrarca Sonett. Die Sprache ihrer Sonette ist die Sprache Petrarcas, die Toscana des 14. Jahrhunderts, die Pietro Bembo, der Literaturpapst des Cinquecento für die italienische Dichtung anmahnte.

Aber auch in der Metaphorik der Dichterin, in der Darstellung ihres lyrischen Ichs, häufen sich Referenzen zu Petrarca, die sie aus multiplen Gründen erstellt, vor allem aber um sich in ihrem subjektiv- authentischen weiblichen Anderssein von ihrem Dichtervater abzugrenzen.

 

Variation weniger Grundmotive im Canzoniere Petrarcas

Multiperspektivität des Oeuvre Vittoria Colonnas

 

Hugo Friedrich hebt die vielfache Variation weniger Grundthemen und Motive in der Dichtung Petrarcas hervor. Sein motivischer, thematischer Spielraum sei nicht groß, aber reich nach innen und reich an seelischen Differenzierungen. Petrarca entfalte Weite auf engem Feld. Er nutze alle Freiheiten des Facettierens, Kombinierens, Abwandelns.

Obgleich Petrarca, zeitweilig im diplomatischen Dienst der Visconti in Mailand, Reisen mit Giovanni Colonna unternimmt, zieht er sich immer wieder in seine Vita Solitariazurück, über die er schreibt, in die Einsamkeit nach Vaucluse (1337) und am Ende seines Lebens nach Arqua. Mit Selbstbeobachtung genial begabt, vertieft er sich beim Durchstreifen amöner Landschaft in sein individuelles Seelenleben, einziges Thema seines Canzoniere: Solo e pensoso i più deserti campi io mesurando a passi tardi e lenti.

Im Gegensatz zu Petrarca, der dem gebildeten Bürgertum entstammt, ist Vittoria Colonna Renaissancefürstin, verehelichte Marchesa von Pescara, Gemahlin des Siegers von Pavia, vernetzt sowohl mit der italienischen wie der spanischen Aristokratie, umschwärmt von den Literaten als Divina. Der Reformtheologie zugeneigt, tritt sie mit den renommiertesten Reformtheologen in Diskurs und wird als einzige Frau in den exklusiven klerikalen Zirkel der Ecclesia Viterbiensisaufgenommen. Kardinal Reginald Pole, der dieser noblen Kommunität vorsteht, wird ihr persönlicher Seelsorger.

In ihren verschiedenen Lebensphasen erfindet sie sich selbst und ihre Dichtung neu, da sie den Ansporn zu authentischem Dichten als Frau in ihrem Lebenszusammenhang sucht. Als nach nur fünfjähriger Ehe ihr Gatte in den Krieg zog und die junge Gemahlin auf der Burg in Ischia zurückließ, nahm sie Ovid, dem Verfasser der Heroidesdie Feder aus der Hand, um ihre Epistola, ein authentisches Briefgedicht an ihren kriegsfernen Gemahl zu dichten. Bereits in diesem Jugendwerk, das durchaus für die Öffentlichkeit bestimmt ist, verhält sie sich persönlich authentisch-Sie stilisiert sich nicht, sondern analysiert ihr verletztes Selbst psychologisch schonungslos gemäß dem Beispiel ihres Dichtervaters Petrarca. 

Radikal entgegen gesetzt positioniert sich die Witwe, zu Petrarca, um statt seines Cantando il duol disacerba ihren Schmerz im expressionistischen Dichten ihrer Witwensonette herauszuschreien und Petrarcas Dolce Stilentgegen zu setzen: Di stil no ma di duol! Die Witwe, der stille Trauer von den Patriarchen auferlegt wird, fordert das Recht des bitteren Weinens: amaro lagrimar. Ein männliches Privileg! Die Witwe hatte zu schweigen.

Auch wenn Petrarca im Hoffnungslosen verweilt, geht Schwermut in Harmonie über und beglückt den Leser. Vittoria liefert sich ihren Gefühlen aus. Überwältigt von ihren Emotionen, ignoriert sie das Bedürfnis des Lesers nach Harmonie. Sie bedrückt ihre Leser und merkt es auch selbst: ich fürchte, mein trister Gesang gereicht anderen mehr zum Überdruss als mir zum Trost.

Anstelle der Variation weniger schlichter Grundmotive in Petrarcas lyrischer Dichtung sind auch Vittoria Colonnas lyrische Sonette vielfach philosophisch und theologisch aufgeladen, komplex und dennoch weiblich- authentisch:

In einem überaus komplexen SonettQuando io dal caro scoglio guardo intorno(Bullock A2:13) beschreibt die Dichterin zunächst ihren Standort, ihr Hier und Jetzt. In der Morgendämmerung steht sie auf ihrem lieben Felsen in Ischia, von dem sie ringsum auf Land und Meer blickt. Im zweiten Quartett erhebt sich ihre Seele mit der Sonne in platonischer Manier himmelwärts. 

Dann aber nützt die Dichterin die Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten zu einer überraschenden Wende. Nach dem Vorbild des Elias, aber nicht in dessen brennenden Himmelskarren, sondern in einer vergoldeten Hochzeitskutsche imaginiert ihre verliebte Seele ihre Himmelfahrt in körperlicher Schönheit zu ihrem verewigten Gatten. 

Frappierend ist das Zeitgefühl Vittoria Colonnas: Sie beobachtet, dass die Vision ihrer körperlichen Himmelfahrt zum Geliebten der momentanen physiologischen Wirkung beseligender Wärme des ersten Sonnenstrahls zu danken ist: In quel momento sente lo spirto un raggio de l’ardor beato.

Die subtile Wahrnehmung der komplexen Vorgänge in ihrem Bewusstsein in einem einzigen Augenblick lässt an Virginia Woolf denken, die ebenfalls den Bewusstseinsstrom in Bezug zur physikalischen Zeit setzte.

 

 

AUSBLICK VOM FELSEN IN ISCHIA 

IN DER MORGENRÖTE

files/sonette/9.jpg

 

Maria Musiol

VITTORIA COLONNA

DAS SONETT FÜR REGINALD POLE

 

Der petrarkistischen Zurichtung Vittoria Colonnas durch die intertextualistischen Dichtungstheoretiker, nämlich der Einordnung der „größten Dichterin Italiens“ in das Gruppenphänomen des weiblichen Petrarkismus als leicht überdurchschnittliches Mitglied, dessen Transformationen aber innerhalb des Systems zu verorten seien (Ulrike Schneider), ist die superbe Dichtkunst entgegenzusetzen, mit der Vittoria Colonna ihre menschlich komplizierte Beziehung zu Reginald Pole in ihr Sonett an ihn hineinchiffriert und zugleich signalisiert, in dessen charismatischer Persönlichkeit sich ihr Göttlichkeit offenbart. Erotik schwingt in ihrer Hingerissenheit von seiner Person mit: Pole verströme den Duft Christi. Sie habe immer Christus in Reginald Pole erlebt, betont sie in einem Brief an Giovanni Morone. „Religion war für Vittoria Colonna auch Anschauung und Gefühl. “(Schleiermacher)

 

Reginald Pole schreibt nach der Hinrichtung seiner Mutter durch die Henker Heinrichs VIII an Vittoria Colonna: „Nachdem ich erkannt habe, dass Gott Deiner Exzellenz hohe Tugenden schenkte und mir die Wut des Pharao (Heinrich VIII) die Mutter entriss, die mich gebar, habe ich Dich an Mutter Stelle angenommen.“

 

Statt mit der zu erwartenden Begeisterung reagiert Vittoria Colonna auf das hochherzige Anerbieten Poles ambivalent. Ihre zwiespältige Haltung vermittelt sie dem von ihr vergötterten Cardinale d’Inghilterra, nicht direkt und unverblümt in einem Gespräch oder einem Brief, sondern sie benützt das Sonett als indirekte Kommunikationsform:

 

FIGLIO E SIGNOR

 

figlio e Signor, se la tua prima e vera madre vive in prigion non l‘è gia tolto l’anima saggia o ‘I chiaro spirto sciolto, né di tante virtù l’invitta schiera.

 

 

A me, che sembro andar scarca e leggiera, e ´n poca terra ho il cor chiuso e sepolto, convien ch’abbi talor l’occhio rivolto, che la tua novella madre non pera.

 

 

Tu per gli aperti spaciosi campi del Ciel camini, e non più nebbia o pietra, ritarda o ingombra il tuo spedito corso.

 

 

Io, grave d’anni, aghiaccio; or tu, ch’avampi d’alta fiamma celeste, umil m’impetra  dal commune Padre eterno omai soccorso.

Sohn und Herr!Angenommen, deine erste wahre Mutter lebe noch im Gefängnis, dann ließe sie sich weder ihre Seelenstärke rauben noch ihren klaren Verstand trüben, noch die unbesiegbare Schar ihrer großen Tugenden entreißen.

 

Auf mich, die ich mich frei und leicht zu bewegen scheine, aber mein Herz in dem kleinen Flecken Erde eingeschlossen und begraben habe, musst du manchmal ein Auge werfen, auf dass deine neue Mutter nicht zugrunde gehe.

 

Du wanderst durch die offenen, weiten Gefilde des Himmels und weder Nebel noch Felsen verlangsamen oder behindern Deinen raschen Lauf.

 

Ich erstarre zu Eis unter der schweren Last meiner Jahre! Du, der Du von himmlischem Feuer loderst, erwirke mir demütig Beistand von dem gemeinsamen Vater.

 

 

 

INTERPRETATION

REFERENZEN ZU PETRARCA

 

FRAGILES SELBST

Hugo Friedrich erkannte, dass sich Petrarca an hohen ethischen Ansprüchen bemesse, um sich einzugestehen, dass er ihnen nicht gewachsen sei. Vittoria tut Reginald Pole gegenüber nichts anderes. Sie fühlt sich der Mutterrolle, die er ihr anträgt, nicht gewachsen und greift zur Darstellung ihrer inneren Lähmung auf Petrarca zurück:

 

Referenzen zu Petrarcas Canzone 331:

POCA TERRA (Zeile 6), ein „Fleckchen Erde“ ist das einzige wörtliche Zitat, das Vittoria Colonna Petrarca entlehnt. Zudem reißt sie es aus dem Zusammenhang. Petrarca wörtlich: e in poca terra ho il cor chiuso e sepolto.

Da Petrarca Lauras Grab als „poca terra“metaphorisiert, steht sein gelähmtes Verharren in diesem Fleckchen Erde im Fokus und nicht seine Trauer um Laura, die er nicht erwähnt. Er klagt darüber, dass das Gute in ihm nun in diesem Grab erdrückt werde: “Jetzt raubt der Tod meine Hoffnungen und wenig Erde erdrückt das Gute in mir. Ich lebe weiter, ohne nachzudenken, um nicht zu erschaudern.“ Vittoria übernimmt von Petrarca das Bild des Grabes als eines einengenden Raumes. 

Jedoch ändert sie die Verszeile signifikant, um ihre unterschiedliche psychische Disposition hervorzuheben. Während Petrarca sein Geschick passiv hinnimmt, gibt Colonna sich selbst und nicht ihrem Geschick die Schuld an ihrer inneren Lähmung: Sie selbst habe ihr Herz (Symbol der Lebenskraft) in diesem Fleckchen Erde verschlossen und vergraben (verstärkendes Hendiadyoin, Zeile 6).

 

PETRARCAS BEWEGUNGSMETAPHERN

FÜR PSYCHISCHE PHÄNOMENE

Die räumliche Verengung des Grabes ist die Metapher für innere Lähmung und kontrastiert mit dem vitalen Schwung des jugendlichen Reginald Pole in ausgreifende räumliche Bewegung (Erste Terzine), die Petrarca vorgibt: Von Lauras Liebe getragen, durchstreifte der Dichter, seinem Stern folgend, Länder und Meere. Ähnlich durchmisst der göttliche Pole, von innerem Feuer lodernd in raschem, unbehindertem Lauf nun aber himmlische Gefilde.

 

Individualisierter Verwendung Petrarcas 

Evozierung von Inhalten

Vittoria Colonna beschränkt sich nicht auf mimetische Ästhetik, sondern evoziert auch Inhalte Petrarcas in ihren gebildeten Lesern, um den Diskurs in der Beschränkung des Sonettes zu erweitern. Sie gewährt ihrer Inspirationsquelle Präsens im Hintergrund ihres Sonetts, das so an Tiefgang, Dichte und Mehrdeutigkeit hinzugewinnt. Colonna erstrebt stets Komplexität und stellt hohe Ansprüche an Verdichtung und Komposition ihrer Sonette. Zutreffender als inter-textualistische Dichtungstheoretiker beurteilt der Literaturpapst des Cinquecento, Pietro Bembo ihre Dichtkunst als einfallsreich, hervorragend durchdacht komponiert und formuliert: in somma eccellentemente e pensata e disposta e dettata.   

 

L’occhio rivolto(Siebte Zeile)

Mit dem Befehl an ihren „Sohn“ – convien ch’abbi talor l’occhio rivolto – und dem angehängten Finalsatz – che la tua madre non pera - weist Vittoria Colonna indirekt auf ihre psychischen Probleme hin. Dass sie von Pole über die übliche Seelsorge hinaus Heilung ihrer kranken Seele fordert und mit dem Blick, den er auf sie richten soll, Augendiagnose meint, ist ihren gebildeten Lesern bewusst dank Petrarcas Beschreibung eines solchen diagnostischen Tiefenblicks in seiner Canzone 331. An der Stirn Lauras hätte er ihre Todesnähe ablesen können, wenn er nur seinen Verstand präsent gehabt und sein Auge nicht abgewandt hätte. 

Dass sich Reginald Pole der psychischen Probleme Vittoria Colonnas annahm, ist vielfach belegt, vor allem durch sie selbst in ihren Briefen an Reginald Pole selbst, an Giovanni Morone und an Giulia Gonzaga:

„Si, Signora mia“, beteuert Vittoria Colonna in ihrem Brief an Giulia Gonzaga,“ich bin Seiner Herrlichkeit (Pole) wegen der Gesundheit meiner Seele zu Dank verpflichtet, weil erstere wegen Wahnideen und letztere wegen schlechter Haltung in Gefahr war.“

 

 

VITTORIA COLONNA

POETOLOGISCHE AUTHENTIZITÄT

SUPERBE DICHTKUNST

IM SONETT AN REGINALD POLE

 

Dialogisierung des Petrarca Sonetts

Fzglio e Signor, beginnt Vittoria ihr Sonett mit der Anrede Jesu durch die Gottesmutter, die sowohl respektvolle Distanz als auch ihre persönliche Nähe zum Ausdruck bringt. Zudem unterstreicht sie ihre Identifikation mit der angetragenen Mutterrolle in zwei direkten mütterlichen Befehlen an ihren „Sohn“ in der Schlusszeile der Quartette und in der letzten Zeile des Sonetts.

Den imaginierten Dialog mit Reginald Pole gestaltet sie lebensnah, indem sie den ersten mütterlichen Befehl an ihren Sohn augenzwinkernd ironisch und obendrein umgangssprachlich formuliert: A me convien ch’abbi talor l’ochio rivolto (7). Auf mich musst Du manchmal ein Auge werfen. Normalerweise hat die Mutter den Sohn im Auge und nicht umgekehrt.

Mit ihrer persönlichen Anrede Figlio e Signor suggeriert die Dichterin eine Dialogsituation. Im ersten Quartett zeichnet sie ein Idealbild seiner leiblichen Mutter. Im zweiten Quartett lenkt sie Poles Aufmerksamkeit auf ihr fragiles Selbst mit dem Befehl, er müsse ein Auge auf sie haben, um im ersten Terzett mit der Idealisierung seiner Person den Fokus wieder auf ihn zu richten und im zweiten Terzett mit der Bitte eines demütigen Gebetes für sie Pole wieder für sich zu engagieren.

 

Raffinierte Montage des Sonetts

Petrarcas Verbildlichung depressiver Lähmung als Einkerkerung in einem kleinen Stückchen Erde (Lauras Grab) wird von der Dichterin analog übernommen, aber nicht verinnerlicht wie von ihrem Dichtervater, sondern in einer Konstruktion spiegelbildlicher Chiasmen in Gegensätzen zwischen ihr selbst, der Gräfin Salisbury, Poles leiblicher Mutter, und Pole selbst dramatisierend nach außen gewendet, um sich schonungslos in ihrer inneren Schwäche zu exponieren, indem sie in den Quartetten ihr fragiles Selbst mit der Standhaftigkeit der Mutter Poles nicht nur vergleicht, sondern deren körperliche Inhaftierung im Tower mit ihrer eigenen körperlichen Bewegungsfreiheit kontrastiert, um dann die innere Freiheit der Gräfin ihrer selbst verursachten inneren Lähmung entgegenzuhalten, die in den Terzinen als Vereisung wiedergegeben, in Gegensatz zu Poles feuriger,  jugendlicher Dynamik gebracht wird. 

Zugleich legt Vittoria Colonna das Sonett antinomisch an: Akzeptanz ihrer Mutterrolle und gleichzeitiges Widerstreben werden in kontroversem Gleichgewicht gehalten, das emotionales Schwanken zwischen zwei Polen vermuten lässt.

 

Die letzte Zeile des Sonetts

Der gemeinsame Vater – il Padre Commune- den die Dichterin in der letzten Zeile des Sonettes beschwört, hat eine tragende Bedeutung in dem kunstvollen Aufbau des Sonetts als verbindendes Element (tertium quid ), das die Konfrontation der Personen in Chiasmen überbrückt. Gott, der gemeinsame Vater, vereint die seelenstarke Gräfin Salisbury und die depressive, innerlich gelähmte, darum zu Eis erstarrte, vom Alter gebeugte Dichterin der Terzette und den vor Feuereifer lodernden, himmelwärts stürmenden, jugendlich dynamischen Reginald Pole.

Ein demütiges Gebet für seine neue Mutter erlegt Vittoria Colonna ihrem Spiritus Rectorauf statt der demütigen Bitte um seine geistliche Führung, die unterbleibt, als wolle sie mit ihrer Bitte um ein demütiges Gebet dem stolzen Kardinal suggerieren, dass er und sie in gleicher Weise eines gnädigen Gottes bedürfen, der nicht vermittelbar sei?

Einerseits ist Vittoria willens, sich von ihrem Spiritus Rectoraus dem Labyrinth ihrer subjektiven Verstrickungen entwirren zu lassen, um den geraden Weg zum Heil zu gehen, den Pole vorgibt. Andererseits aber besteht die stolze Humanistin und Individualistin auf ihrer religiösen Selbstbestimmung.

 Pietro Carnesecchi sagte vor der Inquisition aus, der Kardinal habe die Signora viele Male gemahnt, nicht so neugierig zu sein, sondern innerhalb der Grenzen zu bleiben, „die ihrem Geschlecht, ihrer Demut und Bescheidenheit gesetzt sind.“

 

EPILOG

VITTORIA COLONNA

EXPERIMENTIEREN MIT DEM GÖTTLICHEN

 

Mit einer für eine Frau einzigartigen geistigen Vitalität beharrt Vittoria Colonna auf religiöser Selbstbestimmung und schlägt eigene, neue Wege der Gottsuche ein, auch wenn sie sich als Irrwege herausstellen sollten. Unter Tränen beharrt sie gegenüber befreundeten Theologen , die mit der „Feile“ an ihrer Dichtung hantieren auf der Authentizität ihrer spirituellen Sonette, in denen sie nicht nur ihre positiven religiösen Erfahrungen, sondern ebenso ihre Seelendürren und Ambivalenzen dokumentiert.

Es ist innere Unzufriedenheit, die sie von den männlichen Heilslehren weg auf ihren eigenen Weg der Suche nach dem Göttlichen treibt, wobei ihre fanatische Gottsuche behindert wird durch den Zwiespalt zwischen Intellekt und Glauben, der sie uns sehr nahe bringt.

Zwar preist die Dichterin im Sinne der Reformtheologie den verinnerlichten Glauben als einzige Möglichkeit der Rechtfertigung vor Gott. Und doch finden sich Sonette, in denen sie den Glauben als Vertröstung und Notbehelf für die, dem Menschen vorenthaltene Erkenntnis Gottes beklagt, die ihr im irdischen Leben verweigert wird.

Zwar entsprach die Spiritualität des Juan de Valdés, der den verinnerlichten Glauben als Gnadengeschenk des Heiligen Geistes für erwählte Seelen auslegte, ganz und gar Vittoria Colonnas großer Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Göttlichen im irdischen Leben „Die göttliche Flamme des Heiligen Geistes“, die sie als unsichtbare Kraft zu erfahren hoffte, erklärte sie zur Inspirationsquelle ihrer spirituellen Verse:“ Aus dem göttlichen Feuer, das meinen Intellekt entflammt, entspringen diese Funken.“

Doch wenn überhaupt, scheint die Dichterin die Inspiration durch den Heiligen Geist nur momentan erfahren zu haben, um wieder in quälende innere Leere zurückzufallen. Es erging ihr wie Mutter Theresa, die in ihrer Korrespondenz mit ihrem Beichtvater bekannte, dass sie seit einem halben Jahrhundert nichts mehr von der Gegenwart Gottes gespürt habe.

Anders als der männliche Mystiker Juan de Valdés, der die Einwirkung des Heiligen Geistes absolut setzte und über die schmerzliche Abwesenheit des Heiligen Geistes in der Seele hinwegtäuschte, brachte Vittoria ihre Seelendürre in ihren Sonetten zum Ausdruck. Sie verglich sich mit einem welken Zweig am Baum des Lebens im tiefsten Schatten. Mit ihrer mutigen Wahrhaftigkeit überzeugt sie gerade heute mehr als Valdés.

Vittoria Colonna ließ sich zu einem utopischen Lebensentwurf hinreißen, als sie sich in der Gemeinschaft der Spiritualiin Viterbo etablierte, um in der unmittelbaren Nähe des von ihr vergötterten Reginald Pole in passiver Erwartung der Inspiration des Heiligen Geistes ein kontemplatives Leben zu führen, das ihr nicht lag. Sie erkrankte physisch und psychisch, weil der Zwang zur inneren Ruhe nur ihre innere Unruhe intensivierte, die sich in Psychosen entlud.

Die stolze Renaissancefürstin tat sich schwer mit der düsteren Kreuzestheologie Luthers, die von den Spirituali übernommen wurde, weil sie durch den schmachvollen Kreuzestod die göttliche Würde Christi mit Füßen getreten sah.

Da sie den kreatürlich leidenden göttlichen Schmerzensmann nicht ertrug, vereinigte die Humanistin Christus mit dem strahlenden Gott Apoll und ließ sich von Michelangelo den gekreuzigten Christus mit dem Idealkörper eines griechischen Gottes und ohne Wundmerkmale zeichnen.

Die vergebliche Erwartung göttlicher Erleuchtung ohne eigenes Zutun zermürbte sie, weil die erzwungene Passivität den menschlichen Urtrieb nach Verfügbarkeit des Göttlichen ignorierte. Dank ihrer intellektuellen Unabhängigkeit und Experimentierfreude beschritt sie neue, von Viterbounabhängige Wege, um des Göttlichen habhaft zu werden.

Sie nahm ihre Zuflucht zu Jesu, dem Menschensohn, den sie aus dem fernen biblischen Ambiente löste und in ihre heimatlichen Gefilde nach Ischia holte, um an den Strand zu eilen und ihr Boot an diesem ihren persönlichen Jesu fest zu machen. In Eigenregie vollzog sie ihre religio,ihre persönliche Rückbindung an Gott. Doch ein Rest Skepsis blieb. Ihr Schifflein liegt weiterhin startbereit am Strand. Falls die Stricke reißen sollten, mit denen sie sich an Jesu festband, bestünde die Möglichkeit, sich wieder auf die Odyssee ihrer persönlichen Gottessuche zu begeben.

Wie eine einfache Frau aus dem Volk klammert sich die intellektuelle Aristokratin an magisches Denken. Ein Leben lang will sie in extremis den Schrei GESU einübenum ihn im Armageddon parat zu haben:un grido alto e possente.

Renaissancehaft ist ihre magische Beziehung zur Natur, deren wohltuende Aura der Dichterin Geborgenheit und Kraft als Ersatz für vergeblich ersehnte Verschmelzung mit Gott vermittelte. Den Wacholderbaum, der sich nicht den Stürmen preisgibt, sondern seine Krone fest in sich verschließt und ihren geliebten Felsen in Ischia, der den stürmischen Wogen standhält, verwandelt sie in Role Models für weibliche Souveränität und Selbstbehauptung gegen feindselige Schicksalsmächte in Ermangelung göttlicher Ermutigung.

Vittoria Colonna identifizierte sich mit keiner Heilslehre ausschließlich. Sie blieb auf dem Weg. Während sie im Gewand der Sibylle, die sie von einer erleuchteten Prophetin in eine Gottsucherin verwandelte, mit lodernden Fackeln in beiden Händen vergeblich in die ewige Nacht nach Gott ausleuchtet, vollzieht sie plötzlich eine Wende, von der sie selbst überrascht wird:

Könnte es nicht sein, denkt sie, dass sie die Begegnung mit IHM hier in ihrem irdischen Leben verpasste? „Da ist sie ja die Blinde“, könnte ihr Jesu dann tadelnd zu erkennen geben. „Trotz der hellen Strahlen, erkannte sie ihre schöne Sonne nicht.“

Die Renaissancefrau begehrt, Gott auch auf der Erde beheimatet sehen.