Colonna Forschung

VITTORIA COLONNA

Schemenhafte Überlieferung 

der lebensvoll komplexen Renaissancedichterin 

Penso, un marmo breve 

Chiuda il corpo meo con nome insieme

Vittoria Colonna

 

URSACHEN

Defizite Empirischer Colonna-Forschung

 

Vom Cinquecento bis zum 20igsten Jahrhundert:

Die Verdammung der Häretikerin und ihrer Dichtung durch die Inquisition zeitigt Spätfolgen in der Fehlanzeige adäquater Biographien und in defizitärerempirischer Forschung, wiederum ursächlich für Vittoria Colonnas seltsame Abwesenheit in ihr gewidmeten älteren Biographien: Alfred von Reumont (Vittoria Colonna 1893) beklagt ihr geringes Interesse an der Zeitgeschichte, die der Biograph statt seiner Heldin fokussiert. Susanne Thérault (Un cénacle humaniste de la Renaissance autourVittoria Colonna, 1968) rückt den Dichterkreis in den Fokus, der sich um die in ihrem Buch ebenfalls seltsam abwesende Vittoria Colonna schart.

 

Von derNationalen Bewegung Italiens im 19ten Jahrhundert wurden Vittoria Colonna und Michelangelo gemeinsam als Galionsfiguren vereinnahmt. Doch Vittoria Colonna steht in Michelangelos Schatten, ebenso in den beiden Künstlern gewidmeten Ausstellungen im Kunsthistorischen Museum in Wien (1997) und in der Casa Buonarrroti in Florenz (2005).

 

Jüngere Colonnaforschung

Spätes Zwanzigstes Jahrhundert bis 2016

 

Idealisierung, Intertextualisierung, Eklektizismus, Abstraktivierung, Etikettierung, Eliminierung der Historizität und der Authentizität der Renaissance-Dichterin in Umgehung empirischer Forschung, in Umgehung klassischer, textzentrierter Interpretationen der einzelnen Sonette, die bisher nur in wenigen Beispielen erfolgten, summa summarum, in Umgehung intellektuell-redlichen Bemühens um objektive Erschließung einer herausragenden Dichterin und authentisch-weiblichen Persönlichkeit der Renaissance zum Besten der Frau schlechthin.

 

Hubert Jedin idealisiert die problematische Beziehung zwischen Reginald Pole und Vittoria Colonna als “sublime Freundschaft der beiden großen Seelen.” Die Etikettierung als “Neuplatonikerin,” trotz ihrer Kritik am Platonismus aus weiblich authentischer Sicht, haftet der philosophierenden Dichterin bis heute an, ebenso ihre Apostrophierung als “Heilige” (Jacob Burckhardt), auch wenn sie mittlerweile in eine “Säkularisierte Nonne” der italienischen Reformation mutierte.

 

 

 

 

 

 

VITTORIA COLONNA

im Fokus des Intertextualismus

PARADIGMA DES WEIBLICHEN PETRARKISMUS

Einverleibung der auf ihre Authentizität bedachte Renaissancepersönlichleit in

das intertextuelle Konstrukt eines Gruppenphänomens des weiblichen Petrarkismus;

Die fragwürdige Erstellung eines weiblichen petrarkistischen Canzoniere auf der Grundlage des Erstdrucks der Rime Vittoria Colonnas (Parma 1538);

Ideologische Zurichtung der Dichterin,

für das “System Petrarca;”

Ulrike Schneider. Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento.2007.

 

 

Dass die Initiatorin weiblicher Liebeslyrik mit ihren Nachfolgerinnen unterschiedslos gleichförmig in das, zudem in seiner realen Existenz strittige Gruppenphänomen des “weiblichen Petrakismus des Cinquecento, - wahrscheinlich handelt es sich um ein gedankliches Konstrukt der intertextuellen Dichtungstheoretiker- hinein gezwungen wird, widerspricht epistemologischen Denk-Prinzipien.

 

Ferner ist diese Eingruppierung nur machbar unter Leugnung des Strebens der Renaissancedichterin nach Authentizität, das freilich nicht mit dem intertextuellen Konstrukt des “Systems Petrarca” vereinbar ist und darum von Ulrike Schneider als “anachronistisch” abgetan wird, in Leugnung oder Unkenntnis der Geisteskultur der Renaissancean der Vittoria Colonna in hohem Maß partizipierte, während in Wahrheit Individualismus und Authentizität Wesensmerkmale der Kultur der Renaissance darstellen (Ernst Cassirer. Individuum und Kosmos der Renaissance.1994.7)

 

Der weibliche Individualismus der humanistisch gebildeten Aristokratinnen Italiens wird auch bereits von Jacob Burckhardt hervorgehoben. Rinaldo Corso, der erste Kommentator der Dichtung Vittoria Colonnas, unterschied das Streben der Dichterin nach Authentizität im Rahmen ihrer petrarkistischen Dichtung präzise: Die Dichterin habe über die außergewöhnliche Fähigkeit verfügt, “ad esprimere con le parole d’altrui il suo concetto”. Sie habe mit den Worten eines anderen (Petrarcas) ihr eigenes Konzept ausgedrückt.

 

Der abstoßende Zwang, der Vittoria Colonna von den intertextuellen Dichtungstheoretikern bei der Eingruppierung der individualistischen Renaissancedichterin in den weiblichen Petrarkismus angetan wurde, wiederholt sich bei der Konstruktion eines weiblichen Canzoniere (“das Modell VittoriaColonna”) als Pendant zum männlichen Canzoniere Petrarcas auf der Grundlage des Erstdrucks ihrer Rime(Parma 1538), obwohl Vittoria Colonna diese Ausgabe ausdrücklich nicht autorisierte und Pietro Bembo, der Literaturpapst des Cinquecento, diesen Druck als “Schurkerei” “ beschimpfte.

 

Ulrike Schneider begründet die Grundlegung des Parmadrucks für ihre Konstruktion eines weiblichen petrarkistischen Canzoniere intertextualistisch mit seiner Verbreitung. Als maßgebliche Referenzausgabe für zeitgenössische Autorinnen gebe er auch Aufschluss über deren Verständnishorizont. Die mangelhafte Qualität des Drucks und Fehlerhaftigkeit der Verse, die Vittoria zur Verzweiflung trieben, werden von der Intertextualistin in Kauf genommen.

 

Bembo an Gualteruzzi:” Ihre Majestät beklagte sich bei mir in einem Brief über das Unrecht, das ihr von jemand angetan wurde, der ihre Verse fehlerhaft und auf schäbigstem Papier druckte. Sie bekannte, sie verdiene es nicht besser, weil sie ihre Zeit mit eitlen Dingen vergeudet habe.”

 

DAS KONSTRUKT DES CANZONIERE VITTORIA COLONNA

IMAGINÄR UND WIEDERUM GEWALTSAM (GEGEN DEN WILLEN DER DICHTERIN) ERSTELLT 

durch Rinaldo Corso und Ulrike Schneider

 

VERFRACHTUNG VITTORIA COLONNAS

AUF DEN MITTELALTERLICHEN ITER SPIRITUALE

 

Dem Vorbild des Rinaldo Corso, des sechzehnjährigen ersten Rezensenten der Dichtung Vittoria Colonnas folgend, wurde von Ulrike Schneider einiter spiritualeder Dichterin, ein spiritueller Weg zur persönlichen Vervollkommnung, aus dem Parma Druck der Rime Vittoria Colonnas herausgefiltert, um einen, dem Canzoniere Petrarcas konformen, mit Lösung aus der Diesseitsverhaftung und entschlossener Jenseitsorientierung, also, wie bei Petrarca, mit einer Konversion endenden, weiblichen Canzoniere vorweisen zu können, obgleich Vittoria Colonna sich gegen diesen Heilsweg als “zu steil für meinen Fuß“ wiederholt verwahrte und obgleich der innere Weg der Selbst-Heiligung gemäß dem reformtheologischen Postulat der alleinigen Rechtfertigung vor Gott durch den Glauben, das Vittoria Colonna verinnerlichte und in ihren Rimepoetisierte, ihrem Vertrauen auf Akzeptanz durch einen barmherzigen Gott im, von ihr als permanent erlebten, Zustand persönlicher Unvollkommenheit, zuwiderlief:

 

Nie thematisiert Vittoria Colonna in ihrer Dichtung Streben nach Vollkommenheit, sondern immer nur “ihr inneres Chaos”, das der Barmherzigkeit Gottes bedürfe:

Vittoria Colonna: Io per me sono un’ombra indegna e vile // sol’ per virtù de l’alme piaghe sante// del mio signor non per mio merto viva.

 

EPILOG

 

Das Streben der Dichterin nach Authentizität, das erst ihre stupende geistige Produktivität in Gang setzte, das, von der Colonnaforschung unbemerkt, ebenfalls auf ihren Dichtervater Petrarca, das “Genie der Individualität,” (Ernst Cassirer) zurückgeht, fällt durch das Raster der Dichtungstheorie des Intertextualismus, die derzeit en vogueempirische Erforschung Vittoria Colonnas und ihres Werkes als obsolet erscheinen lässt, um die Dichterin und ihr Werk mit einem Netzwerk von sich gegenseitigen spekulativ überbietenden Theorien über den weiblichen Petrarkismus zu überziehen und den Blick auf die Dichterin selbst zu verstellen:

 

Zweifellos ist Vittoria Colonna Petrarkistin. Sie bevorzugt das Petrarca Sonett in ihrer Dichtung. Die Sprache ihrer Sonette ist die Toscana des vierzehnten Jahrhunderts, die Sprache Petrarcas. 

 

Mit müheloser Eleganz, so scheint es, vereinbart die Dichterin in ihren Sonetten ihre mimetische petrarkistische Ästhetik mit ihrem Streben nach Authentizität und subjektiver Expressivität. Beides, ihr individualisierter Petrarkismus (nicht der intertextuell fixierte) und ihre Authentizität bewirken die faszinierende Komplexität ihrer Dichtung! 

 

Petrarcas Canzoniere diente ihr als “Sprungbrett” für ihre Individuation. Sie kopierte keine literarischen Modelle. Sie individualisierte ausnahmslos alle literarischen Vorlagen.

 

 

VERHEISSUNGSVOLLER COMPANION 

TO VITTORIA COLONNA,

der nicht hält, was er verspricht!

Hg. von Abigail Brundin, Tatiana Crivelli, Maria Serena Sapegno. 2016

Review: Maria Musiol in Renaissance Quarterly. Volume LXX. No 3.

 

In Wahrheit handelt es sich um eine Sammlung von epistemologisch nicht zusammenhängenden, wenn auch teilweise verdienstvollen, meist detaillierenden Aufsätzen, zum Beispiel über den Briefwechsel Vittoria Colonnas (Chemello), eklektizistisch aber reizvoll über Vertonungen der Rime(Piéjus), diskussionsbedürftig über Vittoria Colonnas Beziehung zu Ochino (Campi) und substantiell über Colonnas religiöse Prosa (Carinci)

 

 

Um den mit Betitelung “Companion” zu erwartenden Begleiter zur Persönlichkeit Vittoria Colonnas und ihrem Gesamtwerk handelt es sich bei diesem Buch allerdings nicht!

 

Im Gegensatz zu der substantiellen Erfassung der Persönlichkeit des Dichters T.S. Eliot und seines Werkes im Blackwell-Wiley Companion (2011) werden in Part OneLife and Lettersdes Companion to Vittoria Colonnadie Lebensfakten der Dichterin in eine Zeitleiste gezwängt, die dann doch noch auf wenigen, von den drei Herausgeberinnen gemeinsam formulierten, Seiten in einen Textzusammenhang gebracht wurden, ohne der wiederum hochtrabenden Titelfrage Who was Vittoria Colonnagerecht zu werden, wenn ein Drittel des kurzen Textes von Informationen über Eltern und Gatten verbraucht wird, Allgemeinplätze über ihre Witwenschaft folgen, in der sie sich der Reformtheologiezugewandt habe. 

 

Die, mit ihrem reformtheologischem Engagement parallellaufende, Orientierung der Dichterin amrationalen Renaissance-Humanismuswird in diesem Companion to Vittoria Colonnanicht thematisiert, geschweige denn in einem weiteren Hauptteil entfaltet, obwohl für ihre Zeitgenossen gerade der Renaissance-Humanismus das Neuartige an dieser “göttlichen” Frau darstellte.

 

Michelangeloüber Vittoria Colonna: Un uomo in una donna anzi uno Dio.

 

Paolo GiovioIn ihr entfaltet der illustre, elegante Humanismus seinen strahlenden Glanz. Ihrer Bildung können wir nur das höchste Lob zollen. Seit ihrer Kindheit widmete sie sich dem Studium fast aller Fachbereiche mit solcher Wissbegierde, dass die Philosophen sie als Gesprächspartnerin rühmen, die eher steifen Theologen in Jubel ausbrechen, die Humanisten und Dichter sie restlos bewundern, weil sie nicht durch beständiges Studium erschöpft schien, sondern eher den Eindruck erweckte, sie werde von göttlicher Inspiration getragen.

 

Ein Beitrag, der hätte beginnen sollen, wo er endet!

Virginia Cox. The Exemplary Vittoria Colonna.

 

Vittoria Colonna, die als Renaissancefürstinvon Papst Clemens VII mit der Verwaltung Benevents betraut wurde, einer aufsässigen päpstlichen Stadt, die sie zur Räson brachte, wird in ihrer außergewöhnlichen Historizität nicht thematisiert, die nur am Rande und allein von Virginia Cox gestreift wird, in einem höchst eklektizistischenExemplariness of Vittoria Colonna betitelten Essay, in dem The self-fashioning of Vittoria Colonna leider nur auf Medaillen à la anticabeschränkt wird. Ausgewählt wurden u.a. eine Medaille von ihr selbst als “anideal military wife” und das Pendant von ihrem Gemahl Ferrante d’Avalos in der Paradeuniform des Generals Kaiser Karls V und Siegers von Pavia. 

Die Bildnisse auf den Medaillen sind aber keineswegs moralisierende Exempla. Sie waren als Statussymbole des damals glanzvollsten Ehepaares Italiens intendiert. Doch wurden Medaillen im Cinquecento bereits als obsolet empfunden und in der Malerei durch Porträts ersetzt. (Tizian!)

Vittoria beauftragte Michelangelo mit offiziellen Zeichnungen von ihr und ihrem Gemahl, die von Antonio Tempesta 1613 zu Kupferstichen weiter verarbeitet wurden (heute Albertina Wien). Während Virginia Cox an der rigiden Vittoria der Medaille ihr wallendes Haar (Giovio: Haar der Leda!) als winziges individuelles Detail entdeckt, ließ Michelangelo in die offiziellen Zeichnung nicht nur Vittorias Physiognomie einfließen, die Giovio präzise beschrieb (kein griechisches Profil, Nase der Arsakiden mit maskulin wirkendem Hügelchen über der Nasenwurzel, etc), sondern der begnadete Zeichner drückte seiner geliebten Marchesa ein von ihr selbst entworfenes Häubchen in ihre ebenfalls von ihr persönlich kreierte, kunstvolle Frisur mit Zöpfen. 

Giovio: “Welche schönen Accessoires gibt es in der Kleidung der Frau, die sie nicht eingeführt hätte? Sie schuf die passendsten Frisuren und steckte sich Margeriten und Edelsteine ins Haar”.

Michelangelo jedoch gefiel das Imponiergehabe der Fürstin ganz und gar nicht:

 

Lezi, vezzi, carezze; or, feste e perle, // chi potria ma vederle con atti suo divin l’human lavoro? - Schmuck, Halsketten, Schmeicheleien, Gold, Feste und Perlen, wer nimmt den Tand wahr, da sie Göttliches schafft?

 

Am Ende ihres Essays betont dann auch Virginia Cox die Selbststilisierung der Renaissancedichterin, the self-construction of her own exemplarity, mittels der von Vittoria für sich selbst gewählten Metapher des sich aus eigener Kraft neu erschaffenden Phönix. 

 

Von Virginia Cox, der Expertin für weibliche Renaissance Lyrik des Cinquecento, hätte man sich einen fundierten Beitrag über die Liebesdichtung Vittoria Colonnas und ihrer enthusiasmierten, Nachfolgerinnen gewünscht.

 

FEHLANZEIGEN

IM COMPANION TO VITTORIA COLONNA

 

Während im Blackwell Companion to T.S. Eliotfünfzehn Werke des Dichters in Einzelinterpretationen besprochen wurden, fehlt im CompaniontoVittoria Colonnasogar ein thematischer Überblick über das Ouevre der Dichterin.

 

Nicht besprochenwird im Companion to Vittoria Colonnadie, zum ersten Mal von ihr gewagte, weibliche Liebeslyrik,weder in der Variante der sogenannten platonischen Liebeslyrik, in die von der philosophierenden Dichterin mit poetologischer Raffinesse Kritik am männlichen Neoplatonismus eingeflochten wird, noch in der Spielart ihrer vereinzelt gewagten sinnlichen Sonette an GottAmor, ein atemberaubend kühnes Unterfangen in ihrer patrarchalen Gesellschaft, das, vergleichbar dem Wertereffekt, eine Nachahmungsorgie unter den humanistisch gebildeten Aristokratinnen auslöste.

 

Im Companion nicht thematisiertwird Vittoria Colonnas Witwen Dichtung, ein literarisches Novum! Eigenschöpferischpoetisiert siedasweibliche Individuum in extremis, wobei ihre neuartige weiblich-expressionistische Schmerz Dichtung in ihrer Poetologie an Trakls Expressionismus denken lässt.

 

Nicht erwähntwird im CompanionderProto-Feminismus der Dichterin, der in Sonetten zum Tragen kommt, in denen weibliche Souveränität beschworen wird, vor allem in Vittoria Colonnas humanistischem Remake des Marien Mythos: “Nur wenig geringer als der göttliche Sohn ist die ewige Mutter”.

 

Nicht genannt werden die Themenbereiche ihrer Rime Spirituali,in Wahrheit einer theologischinspirierten Dichtung, nämlich Kreuzestheologie, Sola Fide, die Spiritualität der Ecclesia Vitterbiensis,in der die reformtheologische Autodidaktin, die Diskurse mit den großen Reformtheologen Italiens, Reginald Pole, Gasparo Contarini, Bernardino Ochino auf Augenhöhe führte, abstrakte männliche Reformtheologie aus ihrer weiblich-authentischen Sicht in Versen feminin abwandelte, weil weibliche Dichtung von den Patriarchen weniger beanstandet wurde als authentisch weibliches Gehabe im Gespräch. 

 

Fast völlig fehlenEMPIRISCHE EINZEL-INTERPRETATIONEN DER SONETTEdie, mittels einer, an Emil Staigers text-immanente Interpretations Methode angenäherten, Interpretationsweise Intention, Inhalt und Poetologie der Dichterin am einzelnen Sonett erhellen. Nur mittels textzentrierter Interpretation des einzelnen Sonetts ist eine substantielle Erfassung der Dichtung Vittoria Colonnas möglich, weil die Dichterin Authentisches oft nur poetologisch indirekt auf der Metaebene ihrer Sonette anzudeuten wagt (!).

Ihre komplexe Beziehung zu Petrarcawurde nicht thematisiert,obgleich die Dichterin Petrarca, dem “Genie der Individualität,” nicht nur ihre Poetologie, sondern auch ihren Mut zur Selbstreferenz in ihrer Dichtung und zur Authentizität verdankt.

 

UEBERSEHEN!

VITTORIA COLONNA

POETOLOGISCHE FORTENTWICKLUNG

DES PETRARCA SONETTS

Nicht erwähnt:

DRAMATISIERUNGdes Petrarca Sonetts:

Darstellung ihres inneren Dilemmas in Sonettform,innerhalb der sie sich inszeniert, zum Beispiel, wie sie sich nach dem kürzlichen Tod ihres geliebten Vaters in Trauerkleidung an ihre Scrivaniasetzt,um den großen Fabrizio Colonna mit einem Panegyrikos zu ehren. Da fällt ihr die Feder aus der Hand. Schreib Blockade! Einerseits möchte sie ihren Vater ehren. Doch Scheu vor seiner Übergröße hält sie zurück. Zugleich wird sie von Trauergefühlen übermannt. Über dieses innere Dilemma dichtet sie. Der Panegyrikos kommt nicht zustande. (Bullock A2:31)

Weitere SELBSTINSZENIERUNGEN innerhalb des Petrarca Sonetts:

zum Beispiel als Sibylle, die in vergeblichem Warten auf eine göttliche Botschaft mit lodernden Fackeln in beiden Händen die Nacht nach Gott ausleuchtet (Bullock.S1:8) oder als ambitionierte junge Dichterin, die am Fuße des Helikon herumirrt und vergeblich den Pfad nach oben zu der dort versammelten männlichen Literatenclique sucht, von der ihr Rufen gefühllos überhört wird. (Bullock A1:75)

DIALOGISIERUNGdes Petrarca Sonetts mittels narrativer Dialog-Substrate, zum Beispiel in ihrem höchst raffiniert gestalteten Korrespondenzsonett an Reginald Pole. (Bullock S1:141)

 

 A COMPANION TO VITTORIA COLONNA

WHO IS AFRAID OF VITTORIA COLONNA

Maria Serena Sapegno.THE RIMEA Textual Conundrum.

 

Schon im Titel macht es Maria Serena Sapegno klar, dass sie vor der Rätselhaftigkeit der Lyrik Vittoria Colonnas kapituliert und keine systematisierte Analyse ihrer Dichtung anstrebt.

 

Die Vittoria Colonna Expertin vereinfacht uns den Zugang zu Vittoria Colonna und ihrer Dichtung, indem sie auf Erstellung eines objektivierenden, epistemologischen Zusammenhangs ihres Beitrags verzichtet.

 

Stattdessen lässt Sapegno “Themen und Figuren” der Dichtung Vittoria Colonnas revue passieren, wie sie ihr gerade in den Sinn kommen. Darum liest sich Sapegnos Beitrag streckenweise wie ein innerer Monolog und stellenweise auch, wegen assoziativer Sprunghaftigkeit, wie ein Stream–of-Consciousness Soliloquy, das auch deshalb schwierig zu enträtseln ist, weil Sapegno Belegstellen eklektizistisch aus dem Zusammenhang der Sonette reißt. 

 

Unter dem schwer verständlichen Titel “The Object and the Marriage Relationship” werden aus Colonnasplatonischen LiebessonettenStellen ausgewählt, in denen die Dichterin den verewigten Zustand des Gatten und den andersartigen Seinszustand der Witwe eben nicht dozierend gegenüberstellt, wie es Sapegno tut. Die Dichterin lässt die Ich-Sprecherin illusionäre Versuche starten, die finale Trennung durch platonische Erhebung des Geistes zu überbrücken. Die Versuche scheitern! In Per cagion d’un profondo alto pensero(Bullock. A1:2), von Sapegno teilweise zitiert, verwandelt die neuplatonisch versierte Witwe den platonischen Aufschwung der Seele in einen Flug zum geliebten Toten in Begleitung eines Lichtstrahls in Lichtgeschwindigkeit, um sich dann in den Terzetten unvermittelt in der trennenden Realität des Todes wiederzufinden. Darum reduziert die Dichterin das “schöne Licht, das zum Himmel aufstieg,” realistisch zu einem bloßen Zeichen (segno), das ihren Geist jenseits der sinnlichen Wahrnehmung stimulierte: sovra i sensi mia ragione sospinse.

 

GENDERKONFLIKT 

IN VITTORIA COLONNAS DICHTUNG

und in Sapegnos Interpretation

 

Mit dem Gegensatzpaar ragione /pensiero (männlich)und sensi/desio(weiblich) wird von Sapegnoein zentrales Thema der Rime angesprochen, dessen Häufigkeit - das wäre ihren Ausführungen hinzuzufügen - in dem Colonna zutiefst beschäftigenden Gender konflikt begründet ist. Auch Colonnas charmante Sonette an Amorbehandeln die, weibliches Begehren bremsende, männliche Vernunft, wobei der Liebesgott als Doppelagent fungiert: Er entfacht weibliches Begehren in der Ich-Sprecherin, um zugleich als Gott ihre geistige Beziehung zum toten Gatten herzustellen. 

 

Weibliches Begehrenwird von der Dichterin mit Pensero in subtil differenzierten Gegensätzenin Beziehung gebracht. Es siegt am Ende die männliche Vernunft. (Bullock. A1:38)

 

Quanto è tolto al desio rende un pensiero
Di dolce frutto à tanta mia fatica,
L’un mi consuma il cor, l’altro il nutrica,
Questo fa il viver grave, & quel leggiero.

Scorge falso il pensier quanto per vero
Dimostrò il mondo, onde la pena antica
Con nuovo freno allenta, & mi fa amica
Del ben, ch’ei gode. Io per suoi preghi il spero.

L’altro co i sproni ardenti s‘appresenta
Vago de l’alme luci, & del gioire,
Che nutria l’alma, mentre ei visse in terra.

 


Quel 
fa la gloria viva, &questospenta,
L’un guarda a la cagion, l’altro al martire.
Ma al fin, l’alto pensier vince la Guerra.

 

In einem anderen Sonett (Bullock A1:31) preist die Ichsprecherin den, durch Niederringen der weiblichen Sehnsucht erlangten, Zustand innerer Ruhe als glücklich: Amor malt ihr keine falschen Bilder mehr ins Herz. Sie ist ohne Ängste, weil weder sein goldener noch sein bleierner Pfeil sie jetzt zurückhalte und dann wieder ansporne. Gefestigt in diesem unbeweglichenZustand, öffnet sie sich für schöne Gedanken, die ihr der Gemahl (il mio lume) vom Jenseits oberhalb der Sterne, der Fortuna und des Schicksals mitteile.

 

Auf der Metaebene des Sonettsbeurteilt die philosophisch-ontologisch gestylte Dichterin jedoch die erlangte, Ruhe als unbeweglich, stabil und fest, um anzudeuten, dass sie durch Niederringung ihres sinnlichen Begehrens vollends ihrer Lebendigkeit verlustig ging. Die Adjektive, die einen seelisch-geistigen Zustand beschreiben sollen, sind nämlich paradoxerweise der untersten Seinsstufe der unbeweglichen Natur entnommen und visualisieren die innere Erstarrung und Rigidität. Die Ichsprecherin deutet an, dass vernünftiges Bekämpfen des sinnlichen sehnsüchtigen Begehrens sie ihrer Lebendigkeit beraubte.

 

Questo nodo gentil, che l’alma stringe
Poi che l’alta cagion si fe immortale
Discacciò al mio cor tutto quell male,
Che gli ammanti à furor spesso constringe

Tanto le immagin false hor non dipinge
Amor nella mia mente, ne mi assale
Timor, ne l’aureo, ne’l piombato strale
Tra freni&sproni hor mi ritiene, hor spinge.

Con salda fede in quell immobi stato
Mi appresenta il mio lume un bel pensiero
Sovra le stelle, la fortuna, e’l fato.

Ne men sdegnoso un giorno, ne più altero
L’altro, masempre stabile & beato
Questo amor d’hora è il fermo, il buono, e il vero

Sapegno bewertet den erlangten Zusand der inneren Ruhe inschränkungslos als positiv: “The entire sonnet is pervaded by a blissful immobility which has subdued every impetus of passion.“

Die ontologische Dimension des Sonetts, die raffinierte Abwertung der inneren  lückseligen Ruhe als Erstarrung und Rigidität, die intellektuelle Kapazität Vittoria Colonnas, die sich in dieser raffinierten Poetologie offenbart,bleiben unerkannt, wenn die Interpretation auf themes and figures reduziert wird ohne Bezugnahme auf den philosophischen Hintergrund, dem das Sonett seine Entstehung verdankt.

 

Die Intellektualität der Dichterin wird nicht zur Geltung gebracht, wenn die philosophischen Themen, die sie in ihrer Dichtung meditiert um einer fragwürdigen Vereinfachung willen, in Symbolen und Bildern konkretisiert werden, zumal diese Verfahrensweise das Verständnis der philosophischen Sonette eher erschwert als erleichtert, in denen Vittoria Colonna ihre widerständige weibliche Authentizität dichtend zum Ausdruck brachte, weil das Gesprächsthema mit männlichen Autoritäten tabuisiert war.

 

 

VITTORIA COLONNA

LEIB-SEELE EINHEIT – LEIB-SEELE DUALISMUS

 

Im Sonett Cara Union(Bullock.A1:80) setzt sich die dichtende Philosophin mit der christlich konnotierten Leib-SeeleEinheitund dem gegensätzlichen platonischen Leib-Seele Dualismusaus ihrer weiblich authentischen Sicht als Witwe auseinander:

Wie es einer Christin gebührt, lobt die Dichterin im ersten Quartett die Einheit von Körper und Seele, die sie liebevoll (oder schon ironisch?) als Cara Union bezeichnet, als gottgewollt. Auch in der ersten Zeile des zweiten Quartetts lobt sie den Schöpfer für dieses Werk. Statt sich nun aber in den Willen Gottes zu fügen, widersetzt sich die Renaissancefrau dem göttlichen Schöpfungsakt mit dem atemberaubenden Eigensinn des anmaßenden menschlichen Individuums derRenaissance. Mit dem Leib-Seele Dualismus der platonischen Philosophie bestens vertraut, erklärt sie geradeheraus, diese unleidliche Verbindung von Körper und Geist trennen zu wollen, bevor noch ihr Haar ergraut.

 

Cara union, con che mirabil mod
Per nostra pace t’ha ordinate il Cielo,
Che lo spirto divino e ‘l mortal velo
leghi un soave ed amoroso nodo!

Io la bell’opra e ‘l grande autor ne lodo,
ma d’altra speme mossa e d’altro zelo,
separarla vorrei prima che ‚l pelo
cangiassi, poiché d’essa io qui non godo.

L’alma rinchiusa in questo carcer rio
come nimico l’odia, onde smarrita
né vive qua né vola ov’io desio.

Vera gloria sara vedermi unita
Col lume che die luce al corso mio,
Poi sol nel viver connobi vita.

 

Liebe Verbindung (von Körper und Geist), mit welcher der Himmel wunderbar zu unserem Frieden bestimmt hat, dass den göttlichen Geist und die sterbliche Hülle ein sanfter liebevoller Knoten verint!

Ich lobe das schöne Werk und den großen Schöpfer. Aber von einer anderen Hoffnung und anderm Eifer beseelt, möchte ich diese Verbindung trennen, bevor noch mein Haar ergraut. Ich verspüre an ihr keine Freude.

Die Seele, eingesperrt in diesen schrecklichen Kerker, hasst den Körper als ihren Feind, weshalb sie, verwirrt, weder hier leben kann noch dahinfliegen kann, wohin sie sich sehnt.

Wahre Glorie gibt es dann, wenn ich mich mit dem Licht vereint sehe, das meinen Lebensweg erhellt; denn nur indem ich lebte, erkannte ich, was Leben heißt.

 

Die Zäsur zwischen den Quartetten und den Terzetten des Sonetts verwendet die Dichterin zu einem Stimmungsumschwung. Der meditierend ruhige Ton der Quartette schlägt im ersten Terzett in Hass auf den Körper, ihren Kerker, um. Nicht, als ob sie ihre Hassgefühle innerlich gefasst, dem meditierenden Tenor der Quartette anpassen würde! Nein! Sie schreit ihren Hass heraus: L’alma rinclusa in questo carcer rio come nemico l’odia.

Erst in der zweiten Terzine begründet die wieder gefasstee Ich-Sprecherin in beruhigtem Ton, weshalb sie sich ihrer Körperlichkeit entledigen wolle, nämlich um sich im Jenseits mit ihrem Gemahl zu vereinigen, um schließlich in der zweiten Terzine paradoxerweise einen irdischen Grund für ihre Sehnsucht nach seelischer Verschmelzung mit dem Gemahl kundzutun. Er erhellte ihren Lebensweg! Es ist dieCARA UNION mit ihrem lebenden Gatten in ihrer Ehe, die sie im Himmel fortsetzen will: poi sol nel viver connobi vita.Nur im Lebensvollzug, erkannte sie, was Leben beißt.

 

PRISON, KNOT, VEIL: Mit diesen Images für den Körper im Gegensatz zur Seele vereinfacht Maria Serena Sapegno den Leib-Seele Dualismus in Vittoria Colonnas Dichtung.Sie zitiert das Sonett CARA UNIONausnahmsweise in voller Länge, ohne aber den Argumentationsgang der philosophisch meditierenden Dichterin nachzuvollziehen. Sie beschränkt sich auf die Eruierung von Bezügen der Dichterin zu Petrarca und Dante. Den Hass der philosophierenden Witwe auf ihren Körper, der im platonischen Leib-Seele-Dualismus wurzelt, einer der fatalsten, wirkungsmächtigsten Philosophien der Menschheit, paraphrasiert die, Vittoria Colonnas Dichtung vereinfachende, Interpretin als „UNCHRISTIAN FEELING OF HATE.“

 

COMPANION TO VITTORIA COLONNA

PROÖMIA

PROGRAMMATISCHE GEDICHTE

Maria Serena Sapegno: INTERPRETATION

Maria Musiol Gegendarstellung  

Als wichtiges Themawerden von Maria Serena Sapegno zurecht die ProoemiaVittoria Colonnas zu ihrer Dichtung eingehender behandelt.

 

Sapegno folgt Abigail Brundin (Vittoria Colonna and the Spiritual Poetics of the Italian Reformation.2008), die nicht nur den Rime Spirituali, sondern bereits der Liebesdichtung Vittoria Colonnas eine spirituelle Motivation - “Colonna’s poetic model of spiritually engagedPetrarchism”– zugrundelegt. Sapegno pflichtet ihr bei: “From the beginnings Colonna’s poetry encompassed a spiritual and religious component,” also auch bereits in ihrer Liebesdichtung. 

 

Während Maria Serena Sapegno das Proöm zu Colonnas Liebesdichtung – Scrivo sol per sfogarl’interna doglia,” in dem sich Vittoria Colonna in einer atemberaubenden weiblichen Subjektkonstituierung als dichtende Witwe von ihren Dichtervätern Dante und Petrarca abkehrt, – di stil no, ma di duol- um ihren Witwenschmerz in einer expressionistisch intendierten Witwen-Dichtung ohne religiöse Tröstungen herauszuschreien, zwar vollständig zitiert, aber von einer Interpretation Abstand nimmt, widmet sie dem Proöm (Bullock S1:1) Poi che il mio casto amor - zu den sogenanntenRime Spiritualider Dichterin eine eingehendere Analyse:

 

Poi che ‘l mio casto amor gran tempo tenne
l’alma di fama accesa, ed ella un angue
in sen nudriò per cui dolente or langue
volta al Signor, onde il remedio venne.

I santi chiodi omai sieno mie penne,
e puro inchiostro il prezioso sangue
vergata carta il sacro corpo exsangue,
si ch’io scriva per me quel, ch’Ei sostenne.

 

Chiamar qui non convien Parnaso o Delo
ch’ad altra acqua s’aspira, ad altro monte
si poggia, u’piede uman per sé non sale;

Quel sol, che alluma gli elementi e ‘l cielo,
prego ch’aprendo il suo lucido fonte
mi porga umor a la gran sete equale

 

 

 

 

Sapegnokonstatiert “The new poetry is born here,”, und fühlt sich bestätigt durch “powerful images of crucifixion, which run through many of her compositions.”

 

Zudem erfolge im ersten Terzett eine Abkehr von der klassischen poetischen Tradition:

“The tercets manifest a clear shift in Colonna’s relationship with the poetic tradition: the measure is no longer taken from the classical tradition (Parnassus and Delos) but from references to Dante’s Purgatorio (referred to by Petrarch as well). A penitential journey is undertaken here, itself impossible without the gift of faith (per se non sale) and it ends with a prayer for salvation.”

 

Summa summarum kommt Sapegno zu dem Schluss:

“A continuous journey unquestionably exists, then, watched over and held together by a vigilant and determined “I”, which feels the need to give its own interpretation of the process; but it is arguable whether it is to be interpreted as a journey of ascent, as an Itinerarium Victoriae in Deo.

 

Kommentar

Die Schlussfolgerung, als sei Vittorias Leben wie ein Entwicklungsroman verlaufen, darf in Frage gestellt werden ebenso wie der Iter Spirituale der Dichterin, den Sapegno selbst anzweifelt. Vittoria würde wohl diesen Versuchen des “streamlining” ihres Lebens “als Heilige der italienischen Reformation ihr chaotisches Leben - questa mia vita confusa- entgegenhalten, dessen faszinierende Komplexität die Dichterin uns persönlich so nahe bringt.

 

MARIA MUSIOL

VERSUCH EINER GEGENANALYSE DES PROÖMS:

Poi che il mio casto amor gran tempo tenne

 

Michelangelo stellte in seiner Geschenkzeichnung des Kruzifixus für Vittoria Colonna Christus am Kreuz lebend dar ohne Dornenkrone, ohne Wundmerkmale und mit dem Idealkörper eines griechischen Gottes, der die erniedrigende Kreatürlichkeit des masochistischen ECCE HOMOin der spätmittelalterlichen Malerei aus dem Gesichtsfeld des Betrachters entfernt.

 

Aus dem Dankesbrief einer überglücklichen Vittoria an Michelangelo:

 

Unico maestro Michelangelo

et mio singularissimo amico

Ich habe Euren Brief erhalten und den Gekreuzigten betrachtet, der in meinem Gedächtnis gewiss alle anderen Bilder gekreuzigt hat, die ich jemals angeschaut habe. Man kann sich kein besser gemaltes, lebendigeres, vollendeteres Bild vorstellen und gewiss könnte ich niemals erklären, wie subtil und wundervoll es gemacht ist.

Ich habe es genau bei Licht und mit dem Glas und mit dem Spiegel betrachtet und ich habe nie etwas Vollendeteres gesehen,

Al vostro comando

La Marchesa de Pescara

 

In schockierendem Gegensatz zu ihrer sensiblen Freude über Michelangelos Hervorhebung der unversehrten Göttlichkeit in seiner Zeichnung des Gekreuzigten fokussiert sie in ihrem Proöm die Wundmerkmale im Detail, auf die sie ihre Dichtung von nun an fixieren werde: Die Nägel, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde, seien ihre Schreibfedern, das vergossene Blut des Erlösers sei ihre Tinte, der blutlose Leichnahm sei wertvolles Paper, um darauf zu dichten, was der Gottessohn körperlich erduldet habe.

Maria Serena Sapegnointerpretiert diese an Drastik und Penetranz kaum zu überbietenden Zeilen, die der Sensibilität ihres Briefes an Michelangelo diametral zuwiderlaufen, als Beweis der religiösen Wende Vittoria Colonnas zur Kreuzestheologie: “The new poetry is born preciselyhere.” Die Interpretin fährt dann fort: “It is difficult to overestimate the importance of this text in reconstructing the poet’s journey.”

 

EINE ANDERE VERMUTUNG

 

Mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde die Dichterin zu diesem Text genötigt. Für die Richtigkeit dieser Vermutung sprechen bereits Indizien im Sonett selbst:

 

Maria Serena Sapegno:

“Moreover the tercets manifest a clear shift in Colonna’s relationship with poetic tradition:”

ERSTES TERZETT:

Chiamar qui non convien Parnasso o Delo,
ch’ad altra aqua s’aspira, ad altro monte
si poggia, u’ piede uman sé non sale.

 

 

 

 

The interpreter continues:

The measure is no longer taken from the classical tradition (Parnassus and Delos) but from references to Dante’s Purgatorio (referred to by Petrarch as well). A penitential journey is undertaken here, itself impossible without the gift of faith (“per se non sale”) and it ends with a prayer for salvation.”

 

Kommentar:

Übersehen wird von Sapegno, dass die Dichterin, wie häufig in ihren Sonetten, die Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten zu einem Sprecherwechselnützt. Die Ich-Sprecherin, hier identisch mit der empirischen Persönlichkeit Vittoria Colonnas, wird im ersten Terzett ersetzt durch das unpersönliche man (si).Die Dichterin lässt keinen Zweifel daran, dass ihr “hier”(QUI) (in Viterbo?) von den, im unpersönlichen “man” verborgenen Personen, Verhaltensregeln vorgegebenwerden: Chiamar qui non convien Parnasso o Delo.

 

Es geziemt sich hier also nicht, Apoll anzurufen, wie es Colonna tut, die Christus und Apoll in ihrem Gottesbild vereint und in einem Sonett Jesu bittet: SEI MEIN APOLL! 

 

DIE ÜBERRASCHUNG IM ZWEITEN TERZETT

Ungestillte Sehnsucht der Dichterin nach strahlender Göttlichkeit

bricht sich gegenüber der Kreuzestheologie Bahn:

Quel sol che alluma gli elementi e ‘l cielo// prego, aprendo il suo lucido fonte// mi porga umor a la gran sete equale.

 

Im zweiten Terzett kehrt die Dichterin vom unpersönlichen “man” in die Ichpersepktive zurück, in der sie auf der Metaebene poetologisch indirekt zu verstehen gibt, dass sie sich in ihrem Gottesbild nicht auf die Kreuzestheologie einschränken lässt: 

 

Im Gegensatz zu dem Gekreuzigten, dessen Wundmerkmale sie im zweiten Quartett erschreckend drastisch vor Augen führte, beschwört sie nun Gott als große Sonne, die Elemente und Himmel erleuchtet – Il Grande Sol, ihr Symbol für Gott als Licht- und Wärmequelle, Symbol auch für den, von ihr geliebten, leidlosen Lichtgott Apoll – bittet sie, dass er seine “Lichtquelle” öffne und ihrem großen Durst (Sehnsucht nach dem Göttlichen) angemessen Flüssigkeitgewähre. Für Sapegnodagegen beinhaltet das zweite Terzett  “a prayer for salvation, “auf das sie nur kurz aufmerksam macht, ohne es zu interpretieren. 

 

Dass auf sie - in Viterbo? - Druck ausgeübt wurde, beklagt Vittoria Colonna expressis verbisin Temo che ‘l laccio: (Bullock S1:179) Im ersten Quartett des Sonetts sieht sie die Gefährdung ihrer Dichtung in sich selbst in einem gewohnheitsmäßigen, mechanischen Dichten ohne Inspiration, um dann im zweiten Quartett die Fremdeinwirkung eines Korrektors auf ihre Verse zu beklagen: Obwohl sie ihn als gefühllos abtut – Colui che opra mal con sorda lima- und er ihr mit seiner falschen Einschätzung- falsa stima- die Zeit zum Dichten stehle, dieser Kritiker also von ihr nicht ernst genommen wird, verstärkt er dennoch ihre innere Unsicherheit, die sie in den anaphorischen Satzanfängen der Quartette intensiviert: Temo….Temo.

 

NEUBEGINN EINER EMPIRISCHEN COLONNA FORSCHUNG

In diesem COMPANION TO VITTORIA COLONNA

 

Ideologisches streamliningeiner komplexen Dichterin der Reanaissance, die Baldassare Castiglione als “göttlich” verehrte, zu einer Duchschnittspetrakistin (Intertextualismus) und zu einer Heiligen der italienischen Reformtheologie (Jacob Burckhardt und sein Gefolge) muss unvoreingenommener empirischer Forschung der Primärtexte zu ihrer Persönlichkeit und unvoreingenommenen empirischen Einzelinterpretatonen ihrer Sonette weichen, die beschämenderweise nur für eine geringe Anzahl von Sonetten vorliegt - Zweisprachige Ausgaben fehlen ganz - um Vittoria Colonna, diese eindrucksvolle weiblich authentische Renaissdancepersönlichkeit in ihrer strahlenden komplexen Lebendigkeit endlich zutage tretenzu lassen. Erst dann rechtfertigt sich A Companion to Vittoria Colonna, für den die empirische Forschung noch nicht reif ist.

 

Dennoch erfreut der hier vorgelegte defizitäre Vorläufer nun gerade durch einen hoffnungsvollen Aufbruch zu einem empirischen Neubeginn derColonnafoschung:

Excellent textual scholarship, laying the groundwork for the imperative critical edition of Colonna’s poetic corpus, is joined by studies of the dissemination of mansuscripts (Abigail Brundin), print publication (Tatiana Crivelli) and the overdue linguistic analysis of Colonna’s Italian (Helena Sanson), which will guarantee this Companion a place on the reference shelf, more so as Colonna’s sonnets are itemized by Diana Robin in the ten Giolito anthologies.

Maria Musiol, independent scholar, in Renaissance Quarterly. Volume LXX. No 3.