Schwester Shakespeares?
Deprimiertsitzt Virginia Woolf irgendwann in den zwanziger Jahren auf den Stufen der Bibliothek des Trinity College in Oxford, weil ihr als Frau die Türen dieses Mekka der englischen Literatur verschlossen blieben. In ihrem Essay A Room of One´s Own –Woolf fordert ein eigenes Zimmer für die unterdrückte Frau ihrer Zeit, um ihr geistiges Eigenleben zu fördern – schildert sie diese Begebenheit und zitiert auch die misogyne Behauptung eines Bischofs that it is impossible for any woman past present or to come to have a genius like Shakespeare`s.
Nur deshalb gäbe es keinen weiblichen Shakespeare, spekuliert die Feministin, weil die Frau keine Möglichkeit habe, ihren Genius zu entwickeln. Man müsse sich nur die Grabsteine mit den Namen von fünf und mehr verstorbenen Kindern ansehen und einen Blick in die kleinen, dunklen Zimmer werfen, in denen keine Frau hätte Gedichte oder Dramen schreiben können, um zu dem Schluss zu kommen, dass es in der Zeit Shakespeares kein weibliches Genie geben konnte.
Aber vielleicht, so wähnte Virginia Woolf dann doch, könne man sich eine Aristokratin vorstellen, die von ihrer verhältnismäßigen Freiheit Gebrauch machte, um etwas zu veröffentlichen, und selbstbewusst riskierte, als ein Monster angesehen zu werden.
Diese Aristokratin, von der Virginia Woolf träumte, gab es wirklich: Vittoria Colonna, dem Glückskind, war es vergönnt, ihre weibliche Genialität in der hoffnungsvollen italienischen Renaissance zu entfalten, auch wenn die Inquisition sie letztendlich als Häretikerin aus dem kollektiven Bewusstsein Europas löschte und ihr eine misogyne Nachwelt keine Kränze flocht, so dass ihr weiblicher Genius verscholl.
Vittoria Colonna, Shakespeares Schwester im Geiste.
Beide Dichter, sie in Italien, er in England, registrierten, mit frappierenden Übereinstimmungen, in ihrer Dichtung ihr neuartiges Bewusstsein des menschlichen Innenlebens
Interialization sei das Besondere an Hamlet, so Harold Bloom. Doch Jahrzehnte früher proklamierte die selbstbewusste Vittoria Colonna in programmatischer Abkehr von der antiken Schicksalstragödie ihre Wendung nach innen als neuartige Intention ihrer Dichtung. Wie Shakespeare ging es auch ihr um Inneres, Intimes. Doch anders als der Dramatiker schuf sie keine Figuren. Die Lyrikerin spiegelte ihr subjektives Innenleben, das eigentliche Thema sowohl ihrer Rime Amorose als auch ihrer Rime Spirituali.
Staunen erregt an Vittoria Colonna und Shakespeare das ähnlich stupende Bewusstsein der menschlichen Psyche, ihrer Triebkräfte und Abgründe, ihrer subtilsten Regungen und Ambivalenzen. Wie der Schöpfer des Hamlet und des Macbeth, dringt die Lyrikerin in Abgründe der menschlichen Seele vor und steigert in ihren Sonetten extreme Gefühlszustände zum Äußersten. Ohne jegliches Gottvertrauen artikuliert die aufbegehrende Witwe ihre Wutausbrüche, ihre Verzweiflung, ihre suizidalen Anwandlungen.
Shakespeare, der große Unbekannte, Hamlet, dem er seinen ruhelosen Geist einhauchte, und Vittoria Colonna, die Verkannte, sind sich in ihrer ungeheuren Komplexität ähnlich. Sie lassen sich nicht profilieren, weil sie in unaufhörlicher Selbstwerdung keine Persönlichkeiten ausbilden. Sie verändern sich laufend. Sie identifizieren sich nicht mit Ideologien oder Rollen. Sie brechen Tabus und transzendieren ihre zeitliche Bedingtheit in ihren Aufbrüchen in eine zeitlose Menschlichkeit, in der sie von uns als persönlich nahe erlebt werden.
Vittoria Colonna und Shakespeares Isabella
Die entschlossene Keuschheit Vittoria Colonnas als junge Witwe wirkte provozierend auf Paolo Giovio, der in ihrer sexuellen Verweigerung zu Recht „weiblichen Ehrgeiz“ witterte. Als keusche Witwe entging sie der Heiratspolitik ihrer Familie und wahrte ihre Unabhängigkeit von männlicher Dominanz um der ungestörten Vollendung ihrer weiblichen Persönlichkeit willen, auf die sie als Humanistin allergrößten Wert legte. Weder die Schaffung ihres dichterischen Werkes noch ihre exemplarische weibliche Subjektkonstituierung wären Vittoria Colonna als Ehegattin möglich gewesen.
Isabella, die Heroine Shakespeares in Measure for Measure, gleicht Vittoria Colonna so sehr, dass sie ihr nachgebildet sein könnte. Auch Isabella beharrt auf Keuschheit um ihrer weiblichen Selbstentfaltung willen. Sie ist nicht bereit, sich dem Tyrannen Angelo hinzugeben, obgleich sie das Leben ihres Bruders Claudio retten könnte, der von diesem zum Tode verurteilt wurde. Isabella verkörpert ebenfalls den zur geistigen und persönlichen Unabhängigkeit erwachten Frauentypus der Renaissance. Wie Vittoria gelüstet es Isabella nach gender-crossing. Nichts täte sie lieber als weibliche Rollen mit männlichen zu vertauschen: „Oh, hätte ich Eure Macht und wäret Ihr Isabella“, sagt sie zu dem Tyrannen Angelo, in der Überzeugung, ein reiferes Verständnis von Machtausübung zu besitzen als er.
Wie Vittoria Colonna liegen Isabella männliche Intellektuelle zu Füßen, weil, wie Shakespeare zu verstehen gibt, die überlegene Intellektualität einer selbstbestimmten Frau, gepaart mit entschlossen verteidigter Keuschheit, einen starken sinnlichen Reiz auf Männer intellektuellen Zuschnitts ausübt. Angelo bezeichnet die ihm hörige Marianna, die ihn leidenschaftlich liebt, und die von Claudio geschwängerte Julia, die ihre Schande „geduldig“ trägt, als „arme, verwirrte Frauen“ und verliebt sich bis zur Selbstaufgabe in die spröde Isabella, die der Herzog Vincentino bereits als seine zukünftige Ehefrau für sich reservierte.
Dann aber unterwirft Shakespeare die Intelligenzbestie Isabella doch der Manipulation des überlegenen Herzogs. Trotz ihrer Intellektualität, ihrer Schlagfertigkeit und ihres Witzes bleibt die keusche, selbstbewusste Isabella als Shakespeares Geschöpf ein Sexobjekt für den Tyrannen und den Herzog. In Angelo reizt ihre spröde Verweigerung verdrängte sexuelle Lust. Der Herzog erwartet sich von der unschuldigen Verführerin, deren Keuschheit er in Leidenschaft zu kehren hofft, Heilung von seiner sexuellen malaise.
Eine utopische Frage sei erlaubt: Wäre es dem Dichter Shakespeare recht gewesen, wenn Vittoria Colonna Anstalten gemacht hätte, mit ihm die Klingen zu kreuzen? Wohl eher nicht! Doch genau das hätte sie sich herausgenommen. Ein atemberaubendes gender-crossing veranstaltete sie mit den Dichterfürsten Dante und Petrarca, indem sie als Frau das männliche Privileg der Liebesdichtung für sich in Anspruch nahm, es sogar wagte, das unsterbliche Innamoramento Dantes durch ihre eigenes zu ersetzen: „Die Sehnsucht des ersten Blicks bleibt mir bis zu meiner letzten Stunde.“
Die Komplexität einer Vittoria Colonna erreichte Shakespeares Isabella als Geschöpf eines Mannes nicht. Weibliche Individuation ist nur als Selbstwerdung einer genialen Frau möglich.
In Augenhöhe debattierte Vittoria nicht nur mit den größten Literaten, Theologen, Philosophen ihrer Zeit. Sie ergänzte deren Denkmodelle schöpferisch aus ihrer weiblichen Perspektive. So weit ließ Shakespeare Isabella nicht kommen. Allen seinen Frauen merkt man an, dass sie männlich konzipiert und weiblich reduziert sind. So ließen sie sich von männlichen Schauspielern als weibliche Parodien auf der Bühne zum amusement eines vorwiegend männlichen Publikums darbieten.
In ihrer Komplexität und Echtheit, in ihrer Individualität und Ursprünglichkeit, vor allem auch in ihrer Aufbruchslust und Kreativität lässt Vittoria Colonna, das weibliche Genie der italienischen Renaissance, eine Frau von einzigartiger geistiger Lebendigkeit, die Frauen Shakespeares zu rigiden Marionetten und männlichen Projektionen verblassen.